Europa – Wir müssen reden!

Deutschland und Frankreich schlagen ein 500-Milliarden-Euro-Kreditprogramm für die wirtschaftliche Erholung der EU nach der Corona-Krise vor, die Europäische Kommission erhöht auf 750 Milliarden Euro. Dann gibt es noch die vier „Sparsamen“ Österreich, Niederlande, Dänemark und Schweden, denen das alles viel zu weit geht. Spannender und punktgenauer konnte der Online-Bürgerdialog zur Zukunft der EU nach Corona gar nicht sein, zu dem die Europa-Union Deutschland e.V., der Landesverband Sachsen-Anhalt und die JEF Sachsen-Anhalt im Rahmend er Bürgerdialogreihe „Europa – Wir müssen reden!“ am 27. Mai gemeinsam eingeladen hatten.

Mit dem Europarechtler René Repasi und dem sachsen-anhaltischen Europaabgeordneten Sven Schulze standen zwei ausgewiesene Europaexperten den Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus ganz Deutschland anderthalb Stunden Rede und Antwort.

„Die Europäische Union scheint aus der Eurokrise gelernt zu haben“, so das Urteil Repasis in Bezug auf die Notwendigkeit eines gemeinsamen Vorgehens in und nach der Corona-Krise. Die Eurokrise sei zunächst durch fehlendes gemeinschaftliches Handeln geprägt gewesen. In der Corona-Krise sei man jetzt schon weiter. „Ich begrüße die Vorschläge der Kommission deshalb ausdrücklich.“

Der Vorteil des Wiederaufbauprogramms läge vor allem darin, dass es keine Konditionalität gäbe, also die Forderung von strukturellen Reformen. In der Vergangenheit hätten derartige Forderungen oftmals dazu geführt, dass Mitgliedstaaten beispielsweise ihre Gesundheitssystem marktwirtschaftlicher gemacht hätten, mit dem Ergebnis, dass Krankenhausbetten abgebaut worden sind, die jetzt in der Corona-Krise fehlen würden.

Nachteilig werde in vielen Staaten die mit dem Programm vorgesehene Verschuldung bis 2058 gesehen, konterte Schulze. Er schätze es als wenig wahrscheinlich ein, dass das Europäische Parlament dem vorgeschlagenen Wiederaufbauprogramm gänzlich ohne Veränderungen an dessen jetziger Form zustimmen werde. Dazu seien die Interessen der Mitgliedstaaten zu unterschiedlich. Er gehe von einem Kompromiss gegenüber dem Kommissionsvorschlag aus, um das Wiederaufbauprogramm zu beschließen. Alle würden schließlich schnell aus der Krise herauskommen wollen.

Schulze: „Aufgabe der Europäischen Union ist es, Europa in den nächsten Jahren wieder voranzubringen“. Dem Parlament komme dabei eine herausragende Rolle zu, betonte der Politiker auf die Frage zur Rolle des Europäischen Parlaments nach der Corona-Krise.

Die Krise habe gezeigt, dass es notwendig sei, die europäische Integration weiter zu vertiefen. Dazu gehöre die Wirtschafts- und Fiskalpolitik, so Repasi. Auch unabhängig von Corona werden derzeitig 50 Prozent der durch die Europäischen Kommission genehmigten Beihilfen in Deutschland vergeben. Ein Auseinanderklaffen der Union auf Grund unterschiedlicher Finanzkraft drohe deshalb, wenn nicht die Anstrengungen für eine gemeinschaftliche Wirtschaftspolitik gestärkt würden.

Dazu passend stellte eine Teilnehmerin die Frage nach der Konferenz zur Zukunft Europas und wie es damit weitergehe. Unter den neuen Bedingungen würde diese mit neuen Formaten durchgeführt werden. Andererseits hätte sich an den Grundfragen, die mit der Konferenz verbunden sind und die zur Initiierung der Konferenz geführt hätten, nichts geändert, weshalb an der Konferenz als solche festgehalten werde müsse, so die einhellige Meinung der Referenten.

Diskutiert wurde auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu den Anleihekäufen der Europäischen Zentralbank, welches diese zumindest teilweise in Frage stellt und auch die Kompetenzen des Europäischen Gerichtshofes einschränkt. Obwohl Repasi das Urteil kritisch bewertete, konnte der Verfassungsrechtler diesem dennoch etwas Positives abgewinnen: „Eine Reform der europäischen Verträge ist notwendig“. Die politischen Akteure müssten sich zusammenschließen und eine politische Lösung finden.

Allerdings stellte ein Teilnehmer an der Onlinediskussion auch die Frage, wie man generell in der EU zu gemeinsamen Standpunkten kommen könne, wo es doch so viele Partikularinteressen der Mitgliedstaaten gebe. Eine Antwort auf diese Frage lag auf der Hand: das Gemeinschaftsgefühl der Menschen zu stärken und sie noch mehr zusammenzubringen.

In diesen Kontext würdigte ein Teilnehmer das Format der Webinare und Onlinekonferenzen, die eine Möglichkeit der stärkeren Partizipation als lokal begrenzte Präsenzveranstaltungen haben. Die Corona-Krise habe die Bedeutung von Onlinemeetings steigen lassen, antwortete Schulze. „Nach der Krise werde es mehr Onlineveranstaltungen als vorher geben, wenn auch deren Anzahl nicht auf dem gegenwärtigen Niveau bleiben wird“, so die Prognose von Sven Schulze.

„Man kann aus jeder Krise wachsen“, so das Resümee René Repasis. Webinare würden dazu gehören, und sie seien für den Austausch sehr wichtig geworden.

Text: Thomas Rieke, Landesvorsitzender der Europa-Union Sachsen-Anhalt