Auf die Gemeinschaft und den Zusammenhalt kommt es an!

EUD-Präsidiumsmitglied Hermann Kuhn sieht neben vielen positiven Ansätzen im „Fünf-Präsidenten-Papier“ zur Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion auch zahlreiche kritische Punkte. Er begrüßt die Pläne zur Kapitalmarktregulierung, die Überführung der zwischenstaatlichen Konstrukte zur Bewältigung der Krise in EU-Gemeinschaftsrecht und die Einführung einer europäischen Wirtschaftsregierung. Kritik übt er jedoch an einzelnen Vorschlägen, die teilweise zu kurz griffen oder die bestehenden Institutionen nicht genügend einbezögen. So würden viele Aufgaben nicht der Kommission und dem Europäischen Parlament übertragen, sondern der Eurogruppe. Der Vorschlag eines Eurogruppen-Haushalts berge die Gefahr einer Spaltung des Europäischen Parlaments. Kuhn bedauert außerdem, dass sich die von der Kommission vorgeschlagene Arbeitslosenversicherung, die auch die Europa-Union fordert, im Papier nicht wiederfinde.

EUD-Präsidiumsmitglied und Vorsitzender der Europa-Union Bremen Hermann Kuhn.

Ein Kommentar zum „Fünf-Präsidenten-Papier“

Im Juni hat Kommissions-Präsident Jean-Claude Juncker ein Papier veröffentlicht mit dem Titel „Die Wirtschafts- und Währungsunion Europas vollenden“; in „enger Zusammenarbeit“, wie es heißt, mit Donald Tusk, Jeroen Dijsselbloem, Mario Draghi und Martin Schulz. Deshalb hat sich dafür der Name „Fünf-Präsidenten-Papier“ eingebürgert. Es soll, wie es heißt, auf dem Europäischen Rat im Oktober 2015 erörtert werden. Die Stellung der Autoren, der Anspruch des Papiers („vollenden“) und die gestiegene öffentliche Bereitschaft, nach der Griechenlandkrise grundsätzlicher nachzudenken: all das macht es unumgänglich, dass die Europa-Union sich mit den Vorschlägen kritisch auseinandersetzt. Dazu sollen die folgenden Überlegungen beitragen.

Wie es sich gehört, beginne ich mit dem Positiven. Richtig ist die Aufgabenbeschreibung: Förderung der Konvergenz – der Konvergenz zwischen den Mitgliedstaaten und der Konvergenz innerhalb der Mitgliedstaaten; Erhöhung der Widerstandsfähigkeit von Einzelstaaten und Gemeinschaft, der Fähigkeit, ökonomische Schocks abfedern zu können; Unterstützung und Förderung der Modernisierung wirtschaftlicher, staatlicher und sozialer Strukturen. Dass dies eine Aufgabe nicht nur jedes Staates, sondern der EU insgesamt ist, wird zu Recht mit der gestiegenen gegenseitigen Verflechtung und Abhängigkeit begründet. Deswegen irritiert schon hier die Einengung auf die Euro-Mitgliedstaaten. Ist Polen mit Deutschland weniger verflochten als Slowenien? Konvergenz ist das vertraglich fixierte politische Ziel der gesamten EU, nicht nur der (zur Zeit!) 19 Euroländer.

Sehr zu unterstützen ist die im Papier dargelegte Absicht, soweit als möglich und so schnell als möglich die in der Krise entstandenen zwischenstaatlichen Lösungen in den EU-Rechtsrahmen zu überführen. Für den „Fiskalpakt“ ist das ja fest vereinbart, und sehr viel Zeit bleibt dafür nicht mehr. Dazu gehört für mich perspektivisch aber auch die Umwandlung des ESM in eine „Europäischen Währungsfonds“. Überführung in den EU-Rechtsrahmen heißt ja nicht allein Vereinheitlichung, sondern heißt Überführung in die bewährte Gemeinschaftsmethode, in die Verantwortung aller 28 Teilnehmer; heißt Stärkung der Gemeinschaftsinstitutionen Kommission und Parlament. Das aber war immer und zu Recht das Credo der Europa-Union.

Nicht neu, aber in der Sache richtig und drängend, sind auch die im Papier formulierten Ziele, die Bankenunion zu vollenden (einschließlich eines Europäischen Einlagensicherungssystems als Rückversicherung!) und mit der umfassenden Regulierung der Kapitalmärkte zu beginnen („Kapitalmarktunion“); der gesamte Kapitalmarkt muss unter die Aufsicht des Staates, und zwar gemeinsam in der EU. Leider fehlt jede Aussage zur Finanztransaktionssteuer (wieso gibt es die immer noch nicht?), und die Harmonisierung der Unternehmenssteuern (selbst „nur“ der Bemessungsgrundlage) gibt es nur als mittelfristige Randnotiz.

Der Kern des „Fünf-Präsidenten-Papiers“ sind aber zweifellos die Vorschläge, die den vagen Begriff einer europäischen „Wirtschaftsregierung“ institutionell füllen sollen. Schritte also hin zu der „politischen Union“, ohne die nach allgemeinem Urteil der Euro auf Dauer nicht funktionieren kann. (Ob gerade wir Föderalisten uns mit dieser Begründung für „mehr Europa“ einen Gefallen tun, ist eine andere Frage. Denn jedes Jahr ohne diese „politische Union“, die ja jeder anders definiert, delegitimiert so den Euro weiter.)

Der erste Vorschlag handelt von der Stärkung des europäischen Semesters. Das ist ein gutes Instrument, aber gegenwärtig noch ganz zahnlos (nur 10% der Empfehlungen werden derzeit umgesetzt). Entschiedene Schritte zur Überwindung der Unverbindlichkeit und Beliebigkeit schlägt das Papier aber nicht vor. Solche Schritte wären: Klare Regeln für die Beteiligung der nationalen Parlamente in der Behandlung der Empfehlungen; Pflicht, sich bei mangelnder Umsetzung zu erklären; am Ende auch Sanktionen, die gemeinsam von Kommission und Parlament beschlossen werden.

Warum die Euro-Gruppe hier eine koordinierende Funktion für die gesamte EU übernehmen soll, bleibt dunkel; man bekommt den Eindruck, dass die Kommission sich vor ihren Aufgaben drücken will. Aber nur Kommission und Parlament sind in der Lage und verpflichtet, die Empfehlungen des Europäischen Semesters in inhaltlichen Zusammenhang mit allen übrigen Politiken der EU zu bringen, in erster Linie mit der EU2020-Strategie. Dieser verbindliche, gemeinsame strategische Rahmen für die europäische Politik taucht in dem Papier nicht einmal dem Namen nach auf!

Ähnlich irritierend ist der zweite zentrale Vorschlag, die Einrichtung eines „beratenden Europäischen Fiskalausschusses“ mit der Aufgabe, eine „öffentliche und unabhängige Bewertung der Haushalte (der Mitgliedstaaten) und ihrer Umsetzung“ vorzunehmen. Dieser Vorschlag ist die sichere Gewähr, dass es bei unverbindlichen Diskussionen bleibt – und wenn die Debatte dann doch mal härter wird, dann begehrt die Kommission jedenfalls nicht schuld daran zu sein. Auf der Linie der Europa-Union – Stärkung der Gemeinschaftsinstitutionen – läge ein anderer Vorschlag: Schaffung eines starken Finanz- und Währungskommissars, der unter anderem das Recht bekommt, nach Einvernehmen mit dem Parlament einen nationalen Haushaltsentwurf zurück zu weisen, wenn er wesentlich gegen europäisch vereinbarte Regeln verstößt. In welchen Schritten ein solches zeitweiliges Veto dann aufzulösen wäre, müsste genauer ausgearbeitet werden. Wichtig ist das Grundsätzliche: Statt unverbindliche Beratungen politisch legitimierte Entscheidungen.

Ein dritter Vorschlag skizziert eine „makroökonomische Stabilisierungsfunktion“, auf Deutsch extra Geld „speziell für den Euro-Währungsraum“. Ziel ist allgemein die Stärkung der Widerstandsfähigkeit der Staaten, aber nicht der Ausgleich konjunktureller Schwankungen und nicht Krisenbewältigung. Daher wird hier – leider – z. B. der Kommissionsvorschlag einer europäischen Arbeitslosenversicherung als konjunktureller Stabilisator nicht wieder aufgenommen. Was hier über den Europäischen Fonds für strategische Investitionen hinaus gemacht werden soll, bleibt im Dunkeln. Auch hier wieder die Frage: Warum soll die Stärkung der Widerstandsfähigkeit der Einzelstaaten auf den Euroraum beschränkt bleiben, wenn doch die richtige Begründung ist, dass sich die Schwäche des einen immer auch auf die anderen auswirkt?

Mehrfach betonen die Autoren, dass ihre Vorschläge für eine „Wirtschaftsregierung“ in keinem Fall zu einer „Transferunion“ führen dürfen und werden. Aber erstens ist Konvergenz mit hohen Geldzahlungen in den Strukturfonds bereits jetzt ein erklärtes Ziel der EU. Und tatsächlich wird die Union heute insgesamt „in Haftung genommen“, und sie nimmt diese Aufgabe auch an. Deshalb ist das Credo der „Einheit von Haftung und Kontrolle“ ja richtig; aber im Augenblick geht die politische, faktische Haftung weiter als die Kontrolle – hier verstanden als Einhaltung gemeinsamer Regeln –; und deshalb müssen die Regeln erweitert werden. Und die gemeinsame Verantwortung muss eher in vernünftige Formen gebracht werden. Deswegen ist es ein großer Mangel, wenn die fünf Präsidenten nicht mehr über die Idee eines „Schuldentilgungspaktes“ nachdenken, wie ihn der deutsche Sachverständigenrat vorgeschlagen hatte: Kredite, die über 60% des BIP hinausgehen, bedient jeder Staat für sich, aber die Gemeinschaft haftet gemeinsam, um zerstörerische Spekulation zu verhindern.

Der vierte Vorschlag, der sich durch das Papier der fünf Präsidenten zieht und ein starkes Echo erfahren hat, ist insgesamt die „Stärkung“ der Euro-Gruppe, u.a. durch einen hauptamtlichen Eurogruppen-Vorsitzenden mit eigenem Apparat und eigenem Geld; polemisch formuliert die Schaffung einer Nebenregierung. Konsequent weiter gedacht, folgt aus solcher Schaffung einer Teilunion die Schaffung eines Teilparlaments, das dann allein in Sachen dieser Währungs-(teil-)Union entscheidungsberechtigt wäre.

Diese Idee wird offensichtlich nicht nur in Berlin und Paris ganz positiv aufgenommen, sondern auch in parlamentarischen und föderalistischen Kreisen. Das Argument lautet: Nur damit komme Bewegung in die Integration, die Eurogruppe sei aufgrund ihrer Leidenserfahrungen gegenwärtig so etwas wie eine Avantgarde. Ich sehe diese Avantgarde zum einen in der Realität nicht – zumal hier noch der Zwang zur Einstimmigkeit herrscht! Aber entscheidend ist: Diese Idee führt die europäischen Staaten und Völker nicht zusammen, sondern legt einen tiefen Spalt, der etwas ganz anderes ist als das Verfahren der „verstärkten Zusammenarbeit“ im Rahmen der Union. Dass viele „Teilunionen“ am Ende noch eine Union ergeben, das glaube ich nicht. Solche „Vertiefung“ ist ein gefährlicher Weg.

Der Gegenvorschlag lautet, wie gesagt, die Stärkung eines Währungs- und Finanzkommissars mit „Doppelhut“ des Vorsitzendes der Eurogruppe; und auf der parlamentarischen Ebene die Schaffung eines Sonderausschusses für Euro-Angelegenheiten mit besonderen Informationsrechten – aber Entscheidungen, soweit notwendig, fällt das EU-Parlament als Ganzes.

Ich bin überzeugt, dass die hier skizzierte Kritik und die Gegenvorschläge den Zielen der Europa-Union besser entsprechen: den Zusammenhalt der EU festigen und nicht schwächen; die Gemeinschaftsinstitutionen stärken, die Kommission nicht zurückdrängen und das Parlament nicht spalten; durch Teilung der Souveränität die reale Widerstands- und Handlungsfähigkeit aller Gesellschaften in der Europäischen Union erhöhen.

Dr. Hermann Kuhn, Landesvorsitzender der Europa-Union Bremen
30. August 2015

Hinweis: Viele Anregungen verdanke ich den Papieren von Manuel Sarrazin MdB, Vorsitzender der Parlamentariergruppe der EUD im Bundestag; zu finden auf der Seite www.manuelsarrazin.de