Europa - Warum ein Bundesstaat?

Der Gedanke einer europäischen Einigung wurzelt tief in der Geschichte Europas. Doch wie steht es heute mit der europäischen Idee? Kann ein europäischer Bundesstaat unseren Kontinent voran bringen? EUD-Generalsekretär Christian Moos erläutert in einem Beitrag für EU-in-BRIEF des Netzwerks Europäische Bewegung warum es kein Zurück in nationale Kleinstaaterei geben darf und nur eine europäische Föderation Wege aus der Krise aufzeigt.

EUD-Generalsekretär streitet für den europäischen Bundesstaat

„Nicht eng miteinander verbundene, bestenfalls konföderativ organisierte Staaten haben häufig gewalttätige Konflikte untereinander. Diese Konflikte bedürfen keines besonderen Anlasses. Sie liegen vielmehr in der Natur des Menschen. Der Mensch ist ehrgeizig, rachsüchtig und gierig. Wer nach einer dauerhaften Harmonie zwischen benachbarten, voneinander unabhängigen Staaten suchen will, verkennt den immer gleichen Lauf der menschlichen Dinge und stellt sich der Erfahrung von Jahrhunderten entgegen.“

Dies schrieb Alexander Hamilton im sechsten Artikel der Federalist Papers, einer Serie von 85 Artikeln, die 1787 und 1788 im Staate New York veröffentlicht wurden, um die Bürger für die soeben verabschiedete, aber noch nicht von allen Staaten ratifizierte amerikanische Verfassung zu gewinnen. Hamiltons Deutung des menschlichen Wesens und der menschlichen Händel hat meines Erachtens Gültigkeit bis zum heutigen Tag. Was bedeutet das? Das bedeutet, dass der Frieden in Europa nicht unabhängig von Europas Verfasstheit dauerhaft zu sichern ist.

Dass wir auf eine bald 70jährige Friedenszeit in dem Teil Europas zurückblicken, der den Weg der europäischen Integration beschritten hat, ist nicht auf die Geburt eines neuen Menschen zurückzuführen, sondern auf einen Staatenverbund, der mehr ist als eine bloße Konföderation, mehr ist als ein loser Staatenbund. Die entscheidenden Stabilisatoren im institutionellen Gefüge Europas sind seine integrationsdynamischen, auf Bundesstaatlichkeit weisenden Momente.

Die amerikanischen Gründungsväter Alexander Hamilton, James Madison und John Jay warben für ihre Idee einer amerikanischen Föderation. Wir werben für die Idee einer europäischen Föderation. Da sich die Zukunft der Europäischen Union erkennbar in den kommenden Jahren entscheiden wird, ist es an der Zeit, den Diskurs über die Verfasstheit dieser Europäischen Union wieder aufzunehmen.

Und genau das tun wir. „Unser Ziel ist der europäische Bundesstaat.“ So lautet der Titel des Düsseldorfer Programms, das der 58. Bundeskongress der Europa-Union Deutschland am 28. Oktober 2012 verabschiedet hat. Dieses klare Bekenntnis zu einem europäischen Bundesstaat steht in Kontinuität zum Hertensteiner Programm von 1946, dem Gründungsdokument unserer Europa-Union.

Das vor 66 Jahren entwickelte, fortbestehende Hertensteiner Programm - das Düsseldorfer Programm von 2012 ergänzt es, ersetzt es aber nicht - entwarf die Vision einer „Europäischen Union“ auf föderativer Grundlage. Das Düsseldorfer Programm beschreibt nun den weiteren Weg für diese Europäische Union, die heute nicht mehr Vision sondern Wirklichkeit ist. „Unser Ziel ist der europäische Bundesstaat.“

Der europäische Bundesstaat, den die Europa-Union will, ist auch heute, mehr als 67 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eng verbunden mit der Weltfriedensidee. Auch das Manifest von Ventotene, das Altiero Spinelli und andere Antifaschisten 1941 verfassten, war geprägt von der Sehnsucht nach Freiheit und Frieden.


Die Idee des Bundesstaats wurzelt tief in Europas Geschichte

Diese Sehnsucht manifestiert sich im Europäischen Bundesstaat, ist synonym für die europäische Idee. Die europäische Idee ist die Antwort der Europäerinnen und Europäer auf Jahrhunderte des Krieges, in denen Friedenszeiten in der Regel kurz, selten generationenübergreifend, letztlich nicht viel mehr als Erschöpfungsphasen zwischen den Konflagrationen waren.

Der Gedanke eines europäischen Zusammenschlusses, der dem Kontinent Frieden bringen soll, ist freilich älter, wurzelt tief in der europäischen Geschichte. Nicht zu verkennen ist aber, dass Konzeptionen europäischer Fürstenunionen und ähnliches immer auch interessegeleitet waren, nicht selten sogar hegemoniale Absichten verschleiern sollten. So diente etwa der „Grand Dessein“ des Beraters des französischen Königs Heinrich IV., Maximilien de Béthune, der Friedensplan eines christlichen Europas des späteren Herzogs von Sully, dem Ziel, den habsburgischen Feind zu entmachten und die französische Herrschaft über Europa zu sichern.

Zu denken ist aber auch, um nur ein besonders gewichtiges Beispiel herauszugreifen, an den französischen Schriftsteller Victor Hugo, der 1849 die Vereinigten Staaten von Europa forderte, dies jedoch insbesondere im Sinne eines Freiheitsideals verstanden haben dürfte. Friedenssehnsucht wird hier nicht das leitende Motiv gewesen sein, wohl eher der Wunsch nach Freiheit, für den die Vereinigten Staaten von Amerika bereits damals gestanden haben. Denn Europa erlebte zwar nach den napoleonischen Kriegen eine ungewöhnlich lange Friedenszeit, war damals aber alles andere als frei. Es war die Zeit der Restauration, der heiligen Allianz, des Systems Metternich und all der Rückstauungen, die sich im europäischen Revolutionsjahr 1848 erfolglos, wenn auch nicht folgenlos entluden.

Statt der Vereinigten Staaten von Europa erlebte Hugo das Zweite französische Kaiserreich und dessen Ende im Krieg von 1870, der sogleich nach Sadowa/Königgrätz den definitiven Beginn der deutsch-französischen Erbfeindschaft markierte. Deutschland und Frankreich waren immer schon konstitutiv für Europa gewesen, im Guten wie im Schlechten.

Hellsichtige Staatsmänner wie Aristide Briand sahen schon in der Zwischenkriegszeit, dass letztlich nur eine europäische Vereinigung den Frieden sichern könnte. Und, so sehr der Weg nach Rom von den christdemokratischen Vätern Europas geprägt wurde: die deutschen Sozialdemokraten erhoben immerhin schon 1925 in ihrem Heidelberger Programm die Forderung nach den Vereinigten Staaten von Europa.

Die Umsetzung der europäischen Idee in der Nachkriegszeit war unmittelbare Folge der Erfahrung des Weltbürgerkriegs der Jahre 1914 bis 1945. Bezüglich des Zweiten Weltkriegs  war die Europäische Einigung  die Folge des nationalsozialistischen Vernichtungskriegs im Osten und des Mordes an den europäischen Juden, der besonderen deutschen Schuld und sie ist in Bezug auf uns Nachlebende, unsere fortwährende Verantwortung für die Zukunft. Schon die Präambel des Grundgesetzes formuliert das Ziel eines dem Frieden dienenden Deutschlands in einem vereinten Europa. Europa ist die Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland, auch und gerade des wiedervereinten Deutschland.


Ist die Europäische Einigung als Friedensidee noch aktuell?


In der europäischen Integration verwirklicht sich die Idee des Ewigen Friedens Immanuel Kants. „Die europäische Einigung kann Vorbild für die staatenübergreifende Zusammenarbeit in einer föderalen Weltunion sein.“ Mit diesem Satz knüpft das Düsseldorfer Programm der Europa-Union, wenn auch in nüchterner Tonalität, an das Hertensteiner Programm an. Im Hertensteiner Programm heißt es: „Eine auf föderativer Grundlage errichtete, europäische Gemeinschaft ist ein notwendiger und wesentlicher Bestandteil jeder wirklichen Weltunion.“

Aber ist die europäische Einigung als Friedensidee noch aktuell? Ich höre immer wieder, die Jüngeren seien mit solchen Gedanken nicht mehr zu erreichen. Sind wir wirklich so geschichtsvergessen, dass wir meinen, unsere behagliche bundesrepublikanische Vollkaskoexistenz sei voraussetzungslos? Und hat es denn je nach dem Krieg ein souveränes, nicht europäisch eingebundenes, in den Westen integriertes Deutschland gegeben?

Europa hat immer Ordnungen aufgewiesen, die Stabilität oder Instabilität zur Folge hatten. Irgendeine Ordnung war immer. Ob es die Ordnung des Westfälischen Friedens war oder die der Pentarchie, jenes Systems der fünf Großmächte, die sich in ständig wechselnden Allianzen belauerten und bekriegten, die englische Gleichgewichtspolitik, Revolution und Gegenrevolution, die kontinentale Hegemonie Frankreichs, die restaurative Ordnung des Wiener Kongresses, britische Nichtinterventionspolitik oder, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, deutsche Hegemonialanläufe: Es hat zu allen Zeiten eine europäische Ordnung gegeben.

Diejenigen, die heute die Ordnung in Frage stellen, die die europäische Integration geschaffen hat, die müssen schon erklären, welche Ordnung denn an die Stelle dieses bald sieben Jahrzehnte des Friedens sichernden Systems treten soll.

Der europäische Bundesstaat, den wir wollen, steht ideengeschichtlich in der Folge der atlantischen Revolutionen. Er ist ein westliches Zivilisationsprojekt. Die europäische Integration vollzog sich nicht im luftleeren Raum. Es ist kein Zufall, dass sie unter dem Schutzschirm der Pax Americana ihren Anfang nahm.

Ein Scheitern Europas wäre mithin auch ein Scheitern des Westens. Umso sorgenvoller muss der immer tiefere Graben stimmen, der sich zwischen Großbritannien und dem Rest der Union auftut. Ich hoffe sehr, dass der britische Pragmatismus, der doch eigentlich immer mehr mit nüchterner Interessenabwägung und Vernunft als mit Ressentiment geladenen Emotionen zu tun gehabt hat, dass dieser Pragmatismus sich gegenüber den Übertreibungen durchsetzt, zu denen sich weite Teile der politischen Klasse in Westminster jüngst haben hinreißen lassen. Und ich hoffe auch, dass die Verantwortlichen in Berlin den Wert Europas nicht mit dem Rechenschieber taxieren.


Den Wert Europas nicht mit dem Rechenschieber taxieren

An dieser Stelle Winstons Churchills Zürcher Rede von 1946 und die Forderung nach den Vereinigten Staaten von Europa zu zitieren, würde allerdings nur bedingt weiterhelfen. Denn jene Föderation sollte eben eine kontinentale sein, das Empire eine wohlwollende Weltmacht jenseits Europas.

Der europäische Bundesstaat, für den wir eintreten, ist heute noch Vision, wird aber langfristig keine Chance haben ohne Großbritannien und ohne eine enge  Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Europa wird seine Freiheit ohne glaubwürdige sicherheitspolitische Komponente nicht bewahren können. Der Europäische Bundesstaat braucht eine europäische Armee, die keine Angriffswaffe sein wird, dafür aber umso effektiver in der Verteidigung. Eine europäische Armee braucht Großbritannien.

Was zeichnet den europäischen Bundesstaat aus, und was ist die heutige Europäische Union? Die EU oszilliert seit ihrem Bestehen zwischen dem Staatenbund und dem Bundesstaat. Der Inkrementalismus, die Integration in kleinen Schritten, oft auch in Rückschritten, also zwei Schritte vor und einen Schritt zurück, ist die Methode, nach der dieses Europa gebaut worden ist. Für alle Zukunft zwingend ist dieses Auf-Sicht-Fahren aber nicht. Bereits die Anfänge der Integration hätten auch einen anderen Weg eröffnen können.

Als die Sechsergemeinschaft der Montanunion sich anschickte mit der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft eine Politische Union zu begründen, da war die Europäische Föderation gar nicht mehr so weit weg. Das Scheitern der EVG freilich und der Weg der Integration vor allem über die Wirtschaft, oft auch zutreffend in der Annahme überspringender Integrationseffekte, haben aus föderalistischer Perspektive viel Zeit gekostet.


Wir stehen am Scheideweg in Europa

Der Euro, unsere gemeinsame Währung, ist ein bundesstaatliches Element in dieser Europäischen Union. Und jetzt stehen wir eben am Scheideweg in Europa. Denn die zu Anfang der 1990er Jahre und auch schon weit früher gehegte Hoffnung, man denke an den Werner-Plan der 1970er-Jahre, die Hoffnung, dass über das gemeinsame Geld auch die Politische Union zu ermöglichen sein würde, könnte nun aufgehen. Siekönnte sich aber ebenso in ihr genaues Gegenteil verkehren, in den Alptraum eines zerfallenden Europas.

Da ist jetzt gutes Regieren gefragt. Früher hätte man wohl von Staatsmannskunst gesprochen, heute sind also Staatsfrauen und Staatsmänner gefragt, die erkennen, was auf dem Spiel steht. Aber nicht nur das: Unsere westlichen Demokratien leben von der Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger, von der Partizipation einer lebendigen Bürger- und Zivilgesellschaft. Dafür steht nicht zuletzt die Europäische Bewegung.

Es kommt also auch auf uns an, auf die bürgerschaftlich engagierten Europäerinnen und Europäer. Es kommt an auf die Mitglieder der Europa-Union Deutschland, auf die überzeugten Europäerinnen und Europäer anderer Sektionen der Union Europäischer Föderalisten wie auch auf alle in der Europäischen Bewegung organisierten zivilgesellschaftlichen Kräfte.

Europäische Kleinstaaterei im 21. Jahrhundert, womöglich ein ethnozentrischer, chauvinistischer Regionalismus, ein neuer, brandgefährlicher Nationalismus, das wäre jedenfalls ein folgeschwerer Anachronismus, der Beginn eines neuen Mittelalters. Das letzte hat 1000 Jahre gedauert. Nur die Europäische Föderation wird uns aus dieser Krise führen.


von EUD-Generalsekretär Christian Moos

Dieser Beitrag basiert auf einem am 23. November 2012 auf einem Seminar der Europäischen Akademie Berlin gehaltenen Vortrag und wurde zuerst in der Fachpublikation EU-in-BRIEF des Netzwerks Europäische Bewegung veröffentlicht.