Pressemitteilung: Lissabon-Urteil und Begleitgesetze: Europa-Professionell warnt Bundesregierung vor „Schere im Kopf“

Am Dienstagabend forderten 70 Mitglieder der Europa Union Deutschland, alle politischen Institutionen müssten dafür Sorge tragen, die deutsche Handlungsfähigkeit in Europa zu wahren. Unmittelbar davor hatte der Bundestag die Begleitgesetze zum Lissabon-Vertrag verabschiedet. Joachim Wuermeling, einer der Sprecher von Europa-Professionell, Hauptstadtgruppe der Europa-Union Deutschland, sieht die Bundesrepublik nach dem Urteil geschwächt. Die Bundesregierung habe künftig „eine Schere im Kopf“, müsse jede Initiative, jede europapolitische Entscheidung auf mögliche innenpolitische Hürden prüfen. Die Arbeit ende nicht mit den Begleitgesetzen. Der Vorsitzende des EU-Ausschusses im Bundesrat, Baden-Württembergs Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten, Wolfgang Reinhart, bezeichnete die Verabschiedung der Begleitgesetze als „Husarenritt“.

Die Hauptstadtgruppe der Europa-Union Deutschland, ein Netzwerk proeuropäischer EU-Profis aus Politik und Verbänden, hatte zum Gespräch über die Folgen des Lissabon-Urteils und der Begleitge-setze eingeladen. Prominente Redner waren der gastgebende Minister Reinhart, der Vorsitzende des Bundestagsausschusses für EU Angelegenheiten, Gunther Krichbaum, der Völkerrechtler Professor Franz Mayer und Staatssekretär a.D. Joachim Wuermeling. Silke Kaul, Sprecherin der Haupt-stadtgruppe, eröffnete die Debatte mit der Forderung, die Folgen für Europa seien nun politisch zu betrachten, nicht mehr nur juristisch. Franz Mayer, der das Verfahren in Karlsruhe als Sachverstän-diger des Bundestages begleitet hatte, sagte zur Kritik des Bundesverfassungsgerichts am europä-ischen Demokratiedefizit: „Das Europäische Parlament wird demontiert“. Zudem sieht er die europä-ische Rechtseinheit in Gefahr, weil Karlsruhe die Letztentscheidungskompetenz europäischen Rechts nicht nur für die Identitätskontrolle, sondern auch für die Kompetenzkontrolle für sich bean- sprucht. Darin könnten es andere Verfassungsgerichte in der EU nachahmen. Das europäische Alltagsgeschäft werde zwar nicht beeinträchtigt. Schwierigkeiten für die deutsche Position in Brüssel erwartet Mayer jedoch bei unterschiedlichen Bundestags- und Bundesratsmehrheiten.

Joachim Wuermeling forderte: „Die neue Bundesregierung wird erklären müssen, wie die deutsche Europapolitik demokratischer und transparenter werden soll.“ Die Bundesregierung müsse die über-geordneten, europäischen Interessen Deutschlands definieren. Auch Gunther Krichbaum übte vor-sichtige Kritik am Bundesverfassungsgericht, das sehr auf verbindliche Kontrollrechte fokussiere. Der Bundestag habe sich durchaus seit dem Maastricht-Urteil von 1993 in seiner Integrationsverantwortung weiter entwickelt. So gebe es inzwischen ein Brüsseler Büro, der EU-Ausschuss berate regelmäßig mit EU-Abgeordneten. Wolfgang Reinhart hält die Befürchtung einer eingeschränkten deutschen Handlungsfähigkeit in Europa für unbegründet. Mayer plädierte dafür, dass auch das Bundes-verfassungsgericht in der Auslegung europäischen Rechts enger mit dem Europäischen Gerichtshof zusammenarbeiten solle. „Damit bricht es sich keinen Zacken aus der Krone“, so Mayer. Schließlich machten das auch andere nationale Verfassungsgerichte in Europa. Sogar das britische Oberhaus, das es gefühlt seit Jahrtausenden gebe, verfahre auf diese Weise.