Die EU auf der Grundlage des Vertrags von Lissabon weiter entwickeln

Beschluss des Bundeskongresses vom 6.12.2009 (PDF-Datei)


Die Europa-Union Deutschland begrüßt das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009. Neun Jahre nach dem Gipfel von Nizza, nach einigen Sternstunden der europäischen Demokratie im Verfassungskonvent und nach vielen mühevollen Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit dem Scheitern des Verfassungsvertrags erhält die Europäische Union endlich eine neue Grundlage, die sie handlungsfähiger, demokratischer und in ihren Entscheidungsverfahren transparenter macht. Zudem wird durch die Charta der Grundrechte ihr Wertefundament entscheidend gestärkt.

Die Europa-Union weist darauf hin, dass das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon keineswegs der Endpunkt der europäischen Einigung ist. Die Erfahrung der letzten 50 Jahre hat gezeigt, dass der Einigungsprozess in einer Vielzahl von Schritten erfolgt. Deutschland hat sich dabei von Anfang an auf der Grundlage des Grundgesetzes für das europäische Einigungsprojekt eingesetzt. In der Präambel des Grundgesetzes wird das deutsche Volk ausdrücklich aufgefordert, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen. Dieser Auftrag ist keineswegs überholt.

Seit ihrer Gründung setzt sich die Europa-Union Deutschland auf der Grundlage dieser Verfassungsbestimmung für ein föderal organisiertes Europa ein. Die Schaffung eines Europäischen Bundesstaates bleibt auch weiterhin unser Ziel. Die Auffassung der Europa-Union über die erforderliche und verfassungsrechtlich mögliche Fortführung des Integrationsprozesses bis hin zur Schaffung eines europäischen Bundesstaates wird von vielen Persönlichkeiten aus Gesellschaft, Wissenschaft und Politik geteilt.

 

I.   Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 30. Juni 2009

Die Europa-Union hat mit Freude zur Kenntnis genommen, dass das Bundesverfassungsgericht den Vertrag von Lissabon mit seinem Urteil vom 30. Juni 2009, wie allerseits erwartet, für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt hat.

Die Europa-Union Deutschland und die Jungen Europäischen Föderalisten fordern die Schaffung einer Europäischen Föderation und sind entsetzt darüber, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon in der Schaffung eines europäischen Bundesstaats einen Verstoß gegen das Grundgesetz sieht. Die „Integrationsverantwortung“ liegt nicht etwa in den Händen der Gerichte, sondern in denen der Völker Europas und der durch diese legitimierten Parlamente und damit bei uns, den Bürgerinnen und Bürgern!

Denn der 1993 im Zuge der Ratifikation des Maastricht-Vertrages geschaffene Artikel 23 des Grundgesetzes bestätigt und konkretisiert den Auftrag der Präambel: „Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist  und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren  Grundrechtsschutz gewährleistet.“ Grenzen der Integration Deutschlands in das vereinte Europa legt das Grundgesetz nicht fest, obwohl die europäische Integration bereits seit den Römischen Verträgen „auf einen immer engere Zusammenschluss der europäischen Völker“ ausgerichtet ist.

In der EU finden die Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit genauso Beachtung wie in den Mitgliedstaaten. Entgegen der im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon vertretenen Auffassung kann und wird das Europäische Parlament im Zuge der weiteren Entwicklung des Integrationsprozesses zu einem vollwertigen Parlament erstarken. Es wird seit 1979 direkt gewählt und hat seitdem in mehreren Vertragsreformen an demokratischem Gewicht gewonnen.

Das Wahlrecht zum Europäischen Parlament beruht nunmehr in allen Mitgliedstaaten auf gemeinsamen Grundsätzen, insbesondere dem Verhältniswahlrecht. Die Sitzverteilung hat sich in den letzten Jahren schrittweise in Richtung des Grundsatzes der Wahlrechtsgleichheit entwickelt, wobei der in einer überaus heterogenen Gemeinschaft mit 27 oder mehr Mitgliedstaaten zu beachtende Minderheitenschutz diesem Prinzip notwendig Grenzen setzt. Zudem hat das Europäische Parlament über die Jahre hinweg wesentliche Rechte hinzugewonnen. Auf Grundlage des Vertrags von Lissabon entscheidet es gleichberechtigt neben dem Rat über fast alle EU-Gesetze und über den EU-Haushalt. Das Ziel weiterer Reformschritte muss es sein, das Europäische Parlament weiter zu stärken und das Europawahlrecht zu verbessern und europaweit zu harmonisieren. Zudem geht es darum, die Parteien programmatisch und strukturell zu europäischen Parteien fortzuentwickeln.

Auch muss die EU als Rechtsgemeinschaft bewahrt und gestärkt werden. Zu einem Konflikt zwischen den obersten Gerichten der Mitgliedstaaten und dem Europäischen Gerichtshof darf es nicht kommen. Eine enge Kooperation und die Nutzung des Vorabentscheidungsverfahrens wahrt die für das Gedeihen des europäischen Integrationsprozesses unerlässliche Rechtseinheit.

 

II.   Für eine Grundsatzdebatte zur Zukunft Europas

Die Europa-Union Deutschland setzt sich dafür ein, die durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Deutschland ausgelöste europapolitische Grundsatzdebatte dafür zu nutzen, eine neue Entwicklungsperspektive für die Europäische Union insgesamt aufzuzeigen. Diese darf sich nicht an nationalen Interessen ausrichten, sondern muss sich an den Bedürfnissen und dem Wohlergehen der Bürgerinnen und Bürger orientieren.

Wir werden gemeinsam mit den politischen Parteien, den Verfassungsinstitutionen und allen anderen Interessierten darüber nachdenken, ob die europäische Perspektive des Grundgesetzes, einschließlich der föderativen Option, durch eine Verfassungsänderung bestätigt werden sollte.

Das föderale Projekt stellt die nationale Staatlichkeit und das Konzept der staatlichen Souveränität vor neue Herausforderungen. Die Fortführung der immer engeren Integration erfordert von den Mitgliedstaaten, dass die überkommenen Konzepte überdacht werden, und sie erfordert den eindeutigen Willen, neue Wege zu gehen. Ein klares Bekenntnis, die supranationale Demokratie zu stärken, ist dabei unerlässlich. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Begründung des Tschechischen Verfassungsgerichts in dessen Urteil über den Vertrag von Lissabon vom 3. November: „Die Übertragung von bestimmten Staatskompetenzen, die aus dem freien Willen des Souveräns entspringt und die weiterhin unter dessen Beteiligung ausgeübt werden, ist keine Schwächung der Souveränität, sondern kann im Gegenteil zu deren Stärkung beim gemeinsamen Vorgehen des integrierten Ganzen führen.“

Die Europäische Union hat sich pragmatisch in vielen kleinen Schritten entwickelt, und sie hat dabei eindrucksvolle Fortschritte erzielt. Sie arbeitet auf Grund supranationaler Vereinbarungen bereits seit den Verträgen von Paris und Rom in wesentlichen Zuständigkeitsbereichen wie ein übergeordnetes Staatswesen, d. h wie ein Bundesstaat. Dies gilt für alle Bereiche, in denen sie, wie beispielsweise in der Handelspolitik, in der Wettbewerbsaufsicht und in vielen Bereichen des Binnenmarktes, über übergeordnete Zuständigkeiten verfügt, direkt geltendes Recht setzt und über einen eigenen Haushalt verfügt. In anderen Bereichen überwiegt - auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon - die zwischenstaatliche Kooperation. Diese doppelte Struktur ist kein Defizit, sondern ein erprobter Baustein bei der Entwicklung Europas, zumal sie mit dem Grundsatz der Subsidiarität in Einklang steht. Entscheidungen sollen möglichst bürgernah getroffen werden und keineswegs sollen auch künftig alle Entscheidungen auf die europäische Ebene verlagert werden.

Zugleich muss die Europäische Union aber dort, wo sie Aufgaben besser erledigen kann als die Mitgliedstaaten, über die nötigen Kompetenzen und Instrumente verfügen. Die EU ist an einem Punkt angelangt, an dem die im Vertrag von Lissabon getroffene Richtungsentscheidung zur föderalen Weiterentwicklung der EU entschlossen genutzt werden muss. Die „Methode Monnet“ – die stetige Integration funktional angrenzender Bereiche – ist so erfolgreich angewandt worden, dass weitere Integrationsschritte zwangsläufig Tätigkeitsbereiche betreffen werden, die den Kern nationaler Souveränität stark berühren. Diese liegen insbesondere im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, der Vertretung der Staaten auf der internationalen Bühne, der Sozialpolitik sowie der inneren Sicherheit und dem Strafrecht. In Zeiten globalisierter Märkte, von Finanz- und Wirtschaftskrise, gesteigerter Mobilitätserwartungen auf dem Arbeitsmarkt, Klimawandel und Ressourcenknappheit lassen sich die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts jedoch zumeist nur noch europäisch und nicht mehr nationalstaatlich bewältigen. Es ist daher notwendig, den Weg zu einer effizienten, am Subsidiaritätsprinzip orientierten Aufgabenteilung zwischen EU und den Mitgliedstaaten einschließlich ihrer Länder und Regionen entschlossen fortzusetzen.

Die Europa-Union Deutschland unterstreicht, dass die Europäische Union auch in Zukunft für neue europäische Mitgliedstaaten gemäß Artikel 49 des Vertrags von Lissabon offen ist. Doch sind künftige EU-Erweiterungen im Kontext eines föderalen Europas zu sehen. Die EU muss dazu in der Lage sein, neue Mitglieder aufzunehmen. Zudem muss die Mitgliedschaft in der EU an klare Bedingungen geknüpft sein. Dies bedeutet im Kern: Die EU setzt sich zusammen aus Staaten, die sich dafür entschieden haben, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Bürgerinnen und Bürger durch einen engen und dauerhaften Zusammenschluss zu fördern. Zu dieser supranationalen Ausrichtung der EU müssen sich sämtliche Mitgliedstaaten und auch die Kandidatenländer gleichermaßen bekennen.

 

III. Der europäische Bundesstaat bleibt das Ziel

Die europäische Einigung hat den Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern wesentliche Vorteile gebracht: Frieden, Wohlstand, Reisefreiheit und vieles andere mehr. Die Europäische Union ist zugleich Friedensgemeinschaft, Wirtschaftsgemeinschaft, Sozialgemeinschaft, Umweltgemeinschaft, Rechtsgemeinschaft und Wertegemeinschaft. Diese Errungenschaften dürfen nicht in Frage gestellt und durch eine Rückorientierung auf überholte Vorstellungen und Konzepte, gleich welcher Art, in Gefahr gebracht werden.

Europa hat bisher die Frage nach der Finalität der politischen Einigung nicht beantwortet: Als Modelle werden immer wieder der Staatenbund, der föderale Bundesstaat oder auch ein Staatenverbund eigener Art genannt. Vieles deutet drauf hin, dass die Europäische Union einen eigenen Weg geht, der mit herkömmlichen Maßstäben nicht zu messen ist. Deutlich erkennbar ist der dynamische Charakter der Einigung mit dem in den Verträgen verankerten Ziel eines immer engeren Zusammenschlusses der europäischen Völker.

Für die Europa-Union Deutschland ist der europäische Bundesstaat die wünschenswerte Vision, zu der wir seit Anbeginn der Europäischen Bewegung stehen. Angesichts der unterschiedlichen Zielvorstellungen in den 27 EU-Staaten gilt es, diese Vision mit jenem Pragmatismus zu verbinden, der seit den ersten Tagen der Montanunion immer wieder Voraussetzung der erreichten Erfolge war. Auf diesem Weg werden wir fortschreiten.

All dies zeigt: Die europäische Einigung ist keineswegs an ihrem Endpunkt angelangt. Sie benötigt vielmehr weitere energische Reformschritte, sowohl im Hinblick auf die Ausgestaltung ihrer Entscheidungsverfahren als auch hinsichtlich der Aufgabenverteilung zwischen den verschiedenen politischen Ebenen.

Die vom Bundesverfassungsgericht so nachdrücklich betonte „Integrationsverantwortung“ liegt in den Händen aller Verfassungsorgane der Bundesrepublik. Sie liegt aber auch bei den Organen der Europäischen Union sowie in besonderer Weise auch bei den Parteien und bei den Bürgerinnen und Bürgern Europas.

In Wahrnehmung ihrer Integrationsverantwortung wird sich die Europa-Union Deutschland auch künftig auf der Grundlage des Auftrags des Grundgesetzes engagiert für die Einigung Europas mit dem Ziel der Schaffung des Europäischen Bundesstaates einsetzen.