Ein neuer Grundkonsens für Europa - von EUD-Generalsekretär Christian Moos

Europa und all seine Feste, vor allem die Europawoche im Mai, sind uns, den europäischen Föderalisten, seit Jahrzehnten willkommener Anlass, auf die Erfolge der europäischen Integration aufmerksam zu machen, Sternstunden der europäischen Einigung in Erinnerung zu rufen und uns über das Erreichte zu freuen – die vielen kleinen und großen Wunder, die unmittelbar nach der Zeit der Weltkriege noch utopisch erschienen und doch schon damals die Hoffnungen unserer Gründergeneration beschrieben. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer europäischen Föderation, die die Gräben zwischen den Nationen dauerhaft zu schließen vermag, bleibt unser Leitmotiv.

EUD-Generalsekretär Moos fordert einen neuen Grundkonsens für Europa

Wir wissen aber, dass inzwischen wieder Gräben in Europa aufgerissen werden. Wir machen uns keine Illusionen darüber, dass den Wenigsten der 500 Millionen Unionsbürger zum Feiern zu Mute ist, wenn sie heute an Europa denken. Auch hierzulande nicht, wo das vereinte Europa immerhin noch Verfassungsrang genießt. Wenn Europa mittlerweile auch vielen Deutschen zunehmend als Last erscheint – warum sollen wir für die anderen zahlen? – dann hat das möglicherweise nicht nur mit materiellen Befürchtungen, sondern auch mit einem paradigmatischen Wandel zu tun.

Was einmal bundesrepublikanische Staatsräson war, nämlich Westintegration und europäische Einigung, scheint zugunsten einer noch diffusen neuen deutschen Identität immer mehr in den Hintergrund zu rücken. Deutschland sieht sich, das zieht sich durch alle Parteien, mehr und mehr als globaler Akteur auf Augenhöhe mit den aufstrebenden Mächten des 21. Jahrhunderts. Die Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt wird zum Maßstab für Sein oder Nichtsein. Was bedeuten schon Portugal oder Griechenland, wenn man in einer Liga mit China zu spielen meint? Was bedeutet da selbst Frankreich, dessen Haushalts- und Wettbewerbsprobleme es immer mehr vom deutschen Erfolgsmodell abhängen?

Zwar wird viel davon gesprochen, dass nur Europa vereint in der Globalisierung bestehen könne. Sucht Deutschland aber noch nach seinem Ort in diesem Europa? Oder ist Deutschland das europäische Reich der Mitte, Europas Fluchtpunkt, der Klassenprimus, an dessen „Geschäftsmodell“ die anderen sich zu orientieren haben? Die sechs Krisenjahre hinterlassen ihre Spuren. Sie haben Europa mit Ausnahme einiger weniger EU-Staaten, darunter vor allem das auf seine Exportwirtschaft vertrauende Deutschland, erheblich geschwächt.

Wie wäre es nun um unsere Glaubwürdigkeit als europäische Föderalisten bestellt, wenn wir angesichts der sich um uns herum immer tiefer einfressenden europäischen Krise und der zunehmenden Drift zwischen Deutschland und seinen europäischen Nachbarn so täten, als gebe es kein Problem? Nur mit mehr Europa finden wir zu neuer Stabilität, lautet unser Credo. Aber findet unser Bekenntnis zu Europa noch ausreichend Widerhall? Und was heißt mehr Europa? Gibt es darüber überhaupt einen Konsens zwischen Berlin und den anderen 26 Hauptstädten der EU-Mitgliedstaaten? Bedarf es angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen nicht einer Neuorientierung auch unserer Arbeit?

Ein ehrlicher Blick auf die Lage in Europa zeigt uns, dass die deutsche Sektion der Europäischen Föderalisten nur in wenigen Ländern vergleichbare zivilgesellschaftliche Entsprechungen hat. Bezeichnenderweise sind es vor allem die Staaten, in denen die Idee der Nation auf das Schlimmste pervertiert wurde, die heute die zahlenmäßig bedeutsamsten föderalistischen Bewegungen aufweisen: Deutschland, Österreich und Italien. Vielleicht ist aus dieser Beobachtung zu folgern, wie bestimmend die schon von Theodor Heuss so genannte Vergangenheitsbewältigung für das Engagement vieler Föderalisten ist. Vielleicht zeigt das verhältnismäßig geringe föderalistische Engagement in den meisten anderen europäischen Ländern auch, dass die Ziele der Union Europäischer Föderalisten noch nicht so ausformuliert sind, dass sie auf breite Unterstützung in Europa stoßen.

Deutschland zählt wohl zu den EU-Staaten, in denen das Vertrauen in die europäischen Institutionen noch am größten ist, die offene Ablehnung der Integration noch am wenigsten populäre Fürsprecher hat, was aber auch daran liegt, dass die Krise in Deutschland bisher anders als in vielen anderen EU-Staaten nur Anlass zu Befürchtungen, nicht aber Grund für Kummer und Leid gegeben hat. Vielleicht sollte dies, wenn es denn zutreffend ist, eher zu Demut als zu Hochmut einladen.

Welche Wirkung muss deutscher Europaenthusiasmus, der auch in Deutschland lange nicht mehr mehrheitsfähig ist, dort entfalten, wo die Menschen in Anbetracht einer seit Jahren schrumpfenden Wirtschaftsleistung und steigenden Schuldenlast, grassierender Massen- und vor allem Jugendarbeitslosigkeit sowie zunehmender politischer Instabilität den Glauben an eine europäische Zukunft verlieren? Wo Deutschland wahrgenommen wird, zu Recht oder zu Unrecht, als das mächtigste Land Europas, das den Takt der Krisenbekämpfung bestimmt und im Verein mit Brüssel die anzuwendenden Remeduren vorschreibt, die – mit Ausnahme Irlands vielleicht – noch nirgendwo zu einer tragfähigen Haushaltslage, zu neuem Wirtschaftswachstum oder zu mehr Beschäftigung geführt haben? Deutsche Ideen von Europa bleiben zunächst und zuvorderst deutsche Ideen. Zuzuhören statt zuzureden, zu verstehen statt zu belehren, könnte zielführend sein.

Selbst zwischen einer grundsätzlich positiven Haltung zur europäischen Einigung und dem europäischen Föderalismus, also dem Ziel einer föderal verfassten bundesstaatlichen europäischen Ordnung, liegen nicht selten Welten.

Es ist allerhöchste Zeit, sich auf das zu besinnen, was Europa eigentlich ausmacht. Das sind weder die Kriterien des Stabilitätspakts noch die Wettbewerbsregeln des Binnenmarkts. Das Europa, das wir seit unserem Gründungsmanifest von 1946, dem Hertensteiner Programm, anstreben, ist nicht das einer unpolitischen, wertfreien Wirtschaftsintegration. Es ist zuvorderst ein Europa der offenen Grenzen, des Miteinanders seiner Völker, der gemeinsamen demokratischen Institutionen. Es ist das Gegenbild des Europas der nationalistisch aufgeladenen Gegensätze.

Das Europa, dessen Vereinigung wir vorangetrieben sehen wollen, ist ein pluralistisches, demokratisches und freiheitliches, ein solidarisches Europa, das seine Wurzeln im Humanismus, der Aufklärung und – frei nach Heinrich August Winkler – den atlantischen Revolutionen weiß. Es ist das Europa der allgemeinen Menschenrechte, der Toleranz und der auf europäischer Ebene dringend zu definierenden Volkssouveränität, kurzum, es ist das Europa der westlichen Zivilisation, worunter keineswegs eine geographische Einengung auf das Westeuropa der Nachkriegszeit zu verstehen ist. (Nicht wenige von denen, die wir heute als Osteuropäer bezeichnen, waren lange Zeit westlicher als wir Deutsche – und sind es vielleicht noch heute.)

Im Kern geht es in dem Ringen, das nun einsetzt, um die Bewahrung der Werte unserer westlichen Zivilisation, für Europa und für Deutschland. Es geht um die institutionelle Sicherung von Demokratie, Freiheit, Pluralismus und Menschenrechten in allen EU-Staaten und auch in unserem gemeinsamen europäischen Haus, der Europäischen Union. (Nicht zu vergessen ist bei alledem die Rolle, die die USA immer für Europa gespielt haben.)

Die Bewahrung von Demokratie und Freiheit ist keine Selbstverständlichkeit, wie die aktuellen Entwicklungen in Ungarn und Rumänien und auch andernorts zu Beobachtendes und zu Befürchtendes zeigen. Auf der europäischen Ebene muss die Demokratie überhaupt erst durchgesetzt werden.

Die Demokratisierung der Europäischen Union, ihre vollständige Parlamentarisierung, steht nun auf der Tagesordnung. Auch die europäische Ebene braucht eine verantwortliche Regierung, eine Kommission, die in vollem Umfang abhängig ist vom Mehrheitswillen des Parlaments. Dann kann auch die Gemeinschaftsmethode wieder – und mehr denn je – zur Anwendung kommen. Die Macht des Europäischen Rates muss folgerichtig demokratisch eingehegt werden, denn der Intergouvernementalismus funktioniert nicht mehr. Die „Herren der Verträge“ verhandeln krisenbedingt längst nicht mehr auf Augenhöhe miteinander. Die immer größeren Spannungen zwischen den Regierungen sind die logische Folge einer „Vergipfelung“, bei der die europäische Familie sich aufspaltet in Mächtige und Ohnmächtige.

Europa als politische Entität hatte – im Guten wie im Bösen – immer auch mit der Suche nach Antworten auf die deutsche Frage zu tun. Wie sehr dies nach wie vor gilt, wird uns dieser Tage schmerzlich bewusst. Die Europa-Union sollte hierzulande zu Sensibilität im Umgang mit den europäischen Partnern beitragen, aber auch kritische Fragen nach dem deutschen Selbstverständnis in Europa stellen. Die Rolle, in der Deutschland, die „Zentralmacht Europas“ (Hans-Peter Schwarz), sich nolens volens in der Krise wiederfindet, darf nicht zu einem Sprengsatz für Europa werden. Und Deutschland darf nicht wirtschaftspolitisch aus Europa herauswachsen, denn es wird geographisch immer seinen Platz inmitten Europas haben.

Nur wenn die Europäer sich auf einen neuen Grundkonsens verständigen, wird es eine Zukunft für unser gemeinsames Haus Europa geben. Ein europäisches Deutschland, das sich selbst nicht zum Maßstab aller Dinge macht und damit keiner neuen, auch keiner wohlmeinenden Hybris erliegt, ist eine elementare Voraussetzung für diesen neuen Grundkonsens.

Einfach nur nach mehr Europa zu rufen, wenn die Grundlagen für das Bestehende unterspült werden und viele europäische Nachbarn argwöhnen, Deutschland strebe ein deutsches Europa an, wäre töricht. Es gilt jetzt, die Grundlagen zu sichern, auf denen die bisherigen Integrationsschritte möglich wurden.