„Und jetzt Europa? Wir müssen reden!“ hieß es am 26. April 2018 im Landratsamt in Reutlingen. Unter diesem Motto startete die erfolgreiche Bürgerdialogreihe der Europa-Union Deutschland aus dem Vorjahr in eine neue Runde. Die engagierte Diskussion der Menschen in Reutlingen mit Politikern und Experten zeigte deutlich: Der Gesprächsbedarf über die Zukunft Europas ist weiterhin groß. Die Bürgerinnen und Bürger wollen sich einmischen und aktiv an der Zukunftsdebatte mitwirken, so eine Erkenntnis des Abends.
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„Für mich ist klar, dass die Zukunft nur europäisch sein kann“, eröffnete Florian Ziegenbalg, stellvertretender Vorsitzender der Europa-Union Baden-Württemberg, den Bürgerdialog in Reutlingen. Globalisierung, Digitalisierung, Klimawandel, Migration, Krisen und Konflikte seien als Herausforderungen auch im Landkreis Reutlingen und in Baden-Württemberg spürbar und bedürften gemeinsamen europäischen Handelns, so Ziegenbalg. Doch wie muss die Europäische Union in Zukunft aufgestellt sein, um bestmöglich auf diese Problemlagen reagieren zu können? Darüber müsse laut Ziegenbalg ein breiter, konstruktiver Dialog geführt werden - nicht nur in Brüssel und Berlin, von Politikern und Experten, sondern vor Ort und mit den Bürgerinnen und Bürgern.
Thomas Reumann, Landrat des Landkreises Reutlingen, sah in seinem Grußwort ebenfalls Gesprächsbedarf über Europas Zukunft. „Das vereinigte Europa ist ein Geschenk, aber wissen wir dieses Geschenk alle zu schätzen?“, fragte Reumann das Publikum. Er beobachte mit Sorge, dass Errungenschaften der europäischen Integration zunehmend unter Druck stünden. Es sei an uns allen, Europa zu erhalten und Lobbyarbeit für die europäische Idee zu betreiben, sagte Reumann. Die LEADER-Förderung der EU für die Region und die Auslandspraktika von Auszubildenden aus dem Landkreis mit dem EU-Programm Erasmus+ seien nur einige Beispiele, die zeigten: „Wir im Landkreis Reutlingen profitieren von Europa!“
Bevor die Reutlinger in zwei Themenräumen mit Gästen aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft in den Dialog traten, antwortete Joachim Menze, Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in München, auf die Frage: „Wohin mit Europa?“
Joachim Menze betonte, dass diese Frage auch die Europäische Kommission umtreibe. Mit ihrem Weißbuch zur Zukunft Europas habe die Europäische Kommission eine breite Diskussion in Politik und Bevölkerung darüber angestoßen, wie es nach dem Brexit mit der EU weitergehen könne. Die im Weißbuch vorgestellten fünf Zukunftsszenarien reichen von einer Reduktion der europäischen Zusammenarbeit auf Kernthemen des Binnenmarkts bis hin zu einem umfangreichen Kompetenzzuwachs für die EU, der in Richtung eines europäischen Bundesstaats weist. Eine Umfrage im Publikum zeigte, dass sich die die große Mehrheit eine Lösung wünschten, bei der alle Mitgliedstaaten - oder zumindest diejenigen, die bereit dazu seien - mehr gemeinsames Handeln in Europa ermöglichen.
In der anschließenden Diskussion in den Themenräumen setzte ein Teilnehmender u.a. die Ende 2017 ins Leben gerufene PESCO, die „Ständige Strukturierte Zusammenarbeit“ einer Reihe von EU-Mitgliedstaaten im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, auf die Agenda des Bürgerdialogs. Der Europaparlamentarier Norbert Lins zeigte sich erleichtert, dass es über ein halbes Jahrhundert nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgesellschaft 1954 in diesem Politikfeld nun voran gehe. Als die Debatte auf das oft schlechte Image der EU zu sprechen kam, nahm Lins die Politik in die Pflicht: „Die Parteien in der Mitte müssen eine klar pro-europäische Position beibehalten und diese auch erklären.“
„Hat der Bund bald keine Aufgaben mehr, weil alle Kompetenzen an Brüssel abgegeben werden?“, diese Frage beschäftigte einen Reutlinger Bürger seit langem. Prof. Dr. Cathleen Kantner von der Universität Stuttgart konnte ihn beruhigen. Zwar habe die EU über die Zeit viele Kompetenzen hinzugewonnen, verabschiede aber meist Rahmenrichtlinien, bei deren konkreten Ausgestaltung dem Bund ein großer gesetzgeberischer Spielraum bleibe. In vielen Politikbereichen gäbe es außerdem einen Bedarf an mehr europäischen Vorgaben. „Bildungs- und Berufsabschlüsse sind die neuen Grenzen Europas“, so Prof. Dr. Kantner. Hier müsse die EU für eine bessere gegenseitige Anerkennung aktiv werden.
Cornelia Tausch, Vorstand der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg, betonte im Gespräch mit den Reutlingern, dass die EU den Schutz der Verbraucher stark vorangetrieben habe. Für die Zukunft der EU wünsche Sie sich, dass sich die Menschen stärker in die europäische Politik einbringen, schließlich gelte: „Die Musik spielt inzwischen in Europa.“ Im Bereich des Verbraucherschutzes seien die Online-Konsultationen der Europäischen Kommission ein wichtiges Instrument der Beteiligung und Einflussnahme, das die Bevölkerung noch zu wenig nutze.
Martin Fahling von der IHK Reutlingen verwies auf die Schwierigkeiten, die Unternehmen mitunter bei der Umsetzung von europäischen Vorgaben hätten. Er sagte: „Wir brauchen erst einmal ein Europa ohne Bürokratie für alles.“ Fahling betonte aber auch, dass die EU oft zu Unrecht ein Imageproblem habe und besonders die Wirtschaft stark von Europa profitiere. Es sei wichtig, sich der Vorteile Europas bewusst zu sein, denn letztlich sei die EU ein „Vorzeigeprojekt“.
Der Kritik eines Teilnehmenden, in der EU sei die soziale Komponente noch zu schwach ausgeprägt, stimmte der Landtagsabgeordnete Thomas Poreski zu. Das Ziel sollten sozialpolitische Qualitätsstandards innerhalb der EU sein, so Poreski. Die europäische Politik sei zudem in der Verantwortung, die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Ländern wie Spanien und Italien zu bekämpfen und zu verhindern, dass sich junge Menschen aus Perspektivlosigkeit von der EU abwenden. Die Reutlinger Bürger bat Poreski: „Machen Sie Europa zu Ihrer Angelegenheit. Mischen Sie sich ein.“
Zum Abschluss des Bürgerdialogs wies Dr. Nies Joeres, Vorsitzender der Europa-Union Reutlingen, auf die Bedeutung des deutsch-französischen Motors für die Zukunft der EU hin und unterstrich die reiche deutsch-französische Zusammenarbeit in Reutlingen und Baden-Württemberg. Er dankte allen Mitwirkenden und dem Publikum für die offene und engagierte Debatte.
Moderiert wurde der Bürgerdialog in Reutlingen von Christina Hölz von der Südwest Presse und Nikos Andreadis, freier Journalist.
Kooperationspartner der Veranstaltung waren das Landratsamt Reutlingen, die Europa-Union Baden-Württemberg mit ihrem Kreisverband Reutlingen und die Jungen Europäischen Föderalisten Reutlingen.