Welche Bedeutung hat die EU für Wernigerode und den Harz? Diese Frage stand im Zentrum unseres dritten Bürgerdialogs der Reihe "Europäische Rathausgespräche" am 17. April in Wernigerode. Knapp 50 Personen diskutierten im Rathaus Wernigerode mit Georg Pfeifer, Leiter des Verbindungsbüros des Europäischen Parlaments in Berlin, Thomas Ricke, Kandidat der SPD für die Europawahl, Artjom Pusch, Kandidat der CDU für die Europawahl, und Prof. Dr. Annegret Eppler, Professorin für öffentliches Recht und Europarecht an der Hochschule für öffentliche Verwaltung Kehl.
Aufgrund der Altersdiversität des Publikums fanden Themen wie Generationengerechtigkeit und Zukunftsorientierung der EU bereits zu Beginn der Veranstaltung Erwähnung. Die EU sei insbesondere für junge Menschen gemacht, betonte Uwe-Friedrich Albrecht, Stadtratspräsident von Wernigerode, in seinem Grußwort mit Blick auf die anwesende Gruppe von Studierenden aus Kehl. Eine Umfrage unter den Teilnehmenden ergab jedoch ein eher besorgtes Stimmungsbild Im Hinblick auf die bevorstehenden Europawahlen. Obgleich Georg Pfeifer eine sehr hoffnungsvolle Prognose aus aktuellen Umfragen zur Wahlbereitschaft in Deutschlang zog, wurde im Laufe des Gesprächs durchaus deutlich, welche spaltenden und beängstigenden Effekte die aktuellen geopolitischen Krisen und die Pandemie entfaltet haben, insbesondere in Bezug auf die jüngere Bevölkerung.
Konsens bestand jedoch darüber, dass die Zusammenarbeit im Rahmen der EU gerade aufgrund des globalen Ausmaßes der aktuellen Krisen und Konflikte von besonderer Bedeutung bleibt. Thomas Rieke betonte, gerade jetzt sei es wichtig, für demokratische Parteien zu stimmen, um aktuelle internationale Konflikte zu lösen: „Wir können es uns nicht leisten, eine antieuropäische Stimmung aufzubauen!“. Prof. Dr. Annegret Eppler führte weiter aus, dass Krisen immer auch Hoffnung auf eine Wende implizieren. Dies pointierte sie mit den Worten „Die EU ist keine Ursache, sondern eine Lösungsmöglichkeit für die aktuellen Krisen. Die EU ist was Wunderbares!“. Durch die Erwähnung zahlreicher erfolgreicher Projekte der EU im Bereich Wirtschaft und Infrastruktur, die die Entwicklung der Region in der Vergangenheit gefördert haben oder aktuell unterstützen, wurde dies erneut unterstrichen. Mit dem European Chips Act, dem LEADER-Programm und dem Europäischen Landwirtschaftsfonds seien hier nur wenige genannt. Dass Studierende und Auszubildende im Harz von diversen Austauschmöglichkeiten mit Partnerstädten und Erasmus+ Programmen profitieren und der Tourismus floriert, komme auch den mittelständischen Unternehmen der Region zugute, so das Panel.
Im Rahmen der Fish-Bowl-Diskussion, bei der die anwesenden Bürgerinnen und Bürger auf Augenhöhe mit den Expertinnen und Experten diskutieren und ihre persönlichen Anliegen und Fragen hervorbringen konnten, wurden dann deutlich spezifischere Belange angesprochen. Ein Bürger bedauerte Unklarheiten und eine fehlende Stringenz in der Umsetzung von EU-Richtlinien, beispielsweise der Richtlinie über Einwegkunststoffartikel. Er fühle sich alleingelassen und bedauere eine fehlende Transparenz in der Umsetzung seitens der EU. Damit wurde ein häufig beklagtes Problem angesprochen: Die wahrgenommene Distanz zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und den Entscheidungsorganen der EU. Die Experten und Teilnehmenden legten daraufhin verschiedene Kontaktmöglichkeiten zu Entscheidungsträgern dar, was das Gespräch auf die Bedeutung der Landesvertretungen in Brüssel und auf das Gewicht der länderspezifischen Interessen bei Entscheidungen auf EU-Ebene lenkte.
Auch Kai Tegethoff, Volt-Kandidat für die Europawahl aus Braunschweig, beteiligte sich an der Diskussion. Er vertrat den Standpunkt, man müsse eine stärkere europäische Perspektive aufbauen, um Projekte wie eine gemeinsame Außenpolitik sinnvoll zu denken und gemeinsam Entscheidungen zu treffen. Dabei betonte er die Notwendigkeit, die Interessen der Bürgerinnen und Bürger in den Fokus der EU zu rücken, nicht die der Nationalstaaten. Dazu seien Reformen nötig, was eine Diskussion über die Gesetzgebungsverfahren der EU, die Verschiebung von Zuständigkeiten zwischen den EU-Institutionen und das Subsidiaritätsprinzip initiierte.
Eine weitere Bürgerin erkundigte sich nach Lernmöglichkeiten von anderen EU-Mitgliedstaaten im Bereich der Arbeitsmigration. Thomas Rieke verwies diesbezüglich auf Fördermöglichkeiten von Integrationsprojekten durch den Europäischen Sozialfonds. Zugleich betonten die Expertinnen und Experten jedoch auch, dass Gesetze und Vorgehensweisen nicht immer von anderen EU-Mitgliedstaaten abgeschaut werden können, da Deutschland mit seiner föderalen Struktur eine andere Funktionsweise habe als beispielsweise Dänemark. Diese Problematik wurde bei der Frage nach Deutschlands Rolle in der EU-Gesetzgebung erneut deutlich im Hinblick auf sich häufende Enthaltungen. Das Expertenpanel erwies sich in dieser Hinsicht als besonders spannend, da Prof. Dr. Annegret Eppler in ihrer Rolle als Professorin für öffentliches Recht und Europarecht präzise Erklärungen für rechtliche Prozesse auf europäischer Ebene ausführte, während die anwesenden Politiker aus ihrer Erfahrung und Thomas Rieke zusätzlich aus der Perspektive seiner ehemaligen Tätigkeit in der Landesvertretung von Sachsen-Anhalt in Brüssel sprechen und erklären konnten.
Zum Abschluss wanderte der Fokus der Diskussion noch einmal zurück zu den aktuellen geopolitischen Herausforderungen. Eine Umfrage zu den Themen, die zukünftig ganz oben auf der europäischen Prioritätenliste stehen sollten, ergab eine Konzentration auf Bereiche wie Friedenspolitik, Innovation, Klimaschutz und Gemeinwohl. Die Expertinnen und Experten ergänzten darüber hinaus eine gemeinsame Verteidigungspolitik, die Vermittlerrolle der EU im russischen Angriffskrieg, die Problematik der US-Wahlen und die Entbürokratisierung zugunsten der Handlungsfähigkeit der EU.
Der Europäische Bürgerdialog in Wernigerode wurde organisiert von der überparteilichen Europa-Union Deutschland in Kooperation mit der Europa-Union Sachsen-Anhalt. Die Veranstaltung ist Teil der bundesweiten Veranstaltungsreihe "European Townhall Talks 2024" und wurde gefördert durch das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung sowie das Europäische Parlament.
Bericht: Eva Mall