„Quo vadis, Europa?“ - Europa vor den zukünftigen Erweiterungen

Tagesseminar,  17.06.2005,  Tübingen

 

Am 17.Juni 2005 fand in Kooperation mit dem Centre International de Formation Européenne (CIFE) das vierte Tagesseminar der Europa-Union Deutschland, Kreisverband Tübingen zum Thema „Erweiterung der EU“ statt. Über 35 Personen folgten der Einladung zum Seminar, dass sich einerseits mit den Beitrittskandidatenländern befasste und andererseits auch die Situation der EU nach den Referenden in Frankreich und den Niederlanden darstellen sollte. Ein großer Vorteil war, dass alle Referenten aus den jeweiligen Ländern kamen und somit auch die Situation „vor Ort“ gut einschätzen konnten.

 

Der erste Vortrag über Bulgarien von Boryana Krasteva stellte die historische und geographische Lage des Landes im Hinblick auf einen Beitritt 2007, spätestens aber am 1. Januar 2008 dar. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion fanden in Bulgarien im Jahr 1990 die ersten demokratischen Wahlen statt, zehn Jahre später beginnt die EU-Kommission die Verhandlungen über einen möglichen Beitritt Bulgariens zur Europäischen Union. Dazu muss das Land die Kopenhagener Kriterien erfüllen. Während der Verhandlungen zeigten sich große Fortschritte bei der Demokratisierung und Implementierung des gemeinsamen Besitzstandes der EU, allerdings mahnte die Kommission einige grundlegende Maßnahmen an: Bei der Reform des Justizwesens sowie der Umsetzung von Menschenrechten stehen noch große Bemühungen aus. Gerade die Rechte der  Minderheiten von Sinti und Roma, die einen Bevölkerungsanteil von etwa 10% ausmachen, sind nicht versprechend gesichert. Auch die wirksame landesweite Korruptionsbe-kämpfung ist noch nicht umgesetzt. Bei der Umsetzung der vier Grundfreiheiten sowie des eu-ropäischen Wettbewerbsrecht mahnte die Kommission weitere Reformen an. Ein weiteres Problem trifft den Bereich der Kinderbetreuung in Kinder- und Waisenheimen, in denen teilweise menschenunwürdige Zustände herrschen. Die EU-Kommission sprach bei der Marktwirtschaft hingegen von einem funktionieren Markt, der durchaus mit der europäischen Standards mithalten kann. Um Bulgarien ausreichend Zeit einzuräumen, wurde bei der Regierungskonferenz 2004 in Luxemburg eine Sicherheitsklausel eingerichtet, die beiden Seiten eine Verschiebung des Beitritts von 2007 auf 2008 ermöglicht, sollten die Kopenhagener Kriterien nicht ausreichend erfüllt sein. Eine weitere Bedingung der EU war die Abschaltung zweier Atomkraftwerke sowjetischer Bauart, die ein erhebliches Sicherheitsrisiko darstellen. Diese Forderung wurde seitens der Bevölkerung sehr kritisch aufgenommen, da zum einen zahlreiche Arbeitsplätze in Gefahr sind und zum anderen die eigenständige Stromversorgung Bulgariens gefährdet ein könnte.

 

In der anschließenden Diskussion ergab sich die Frage, ob Bulgarien für einen EU-Beitritt reif sei. Aber auch, ob die EU bereit ist, die Aufnahme weiterer Staaten zu verkraften. Auf politi-scher Ebene stellt allerdings niemand den Beitritt Bulgariens – und auch Rumäniens – in Frage, er kann sich maximal um ein Jahr verzögern. In Bulgarien gibt es durchaus kritische Stimmen zum EU-Beitritt. Viele Bulgaren fürchten nach dem Beitritt einen Anstieg der Preise und die Aufgabe der kulturellen Identität Bulgariens. Allerdings überwiegen derzeit die positiven Stim-men in Bulgarien, die eine Chance im Beitritt des osteuropäischen Landes zur EU sehen, so die Referentin.

Rumänien als das ärmste der mittel- und osteuropäischen Staaten, bereitet sich ebenso intensiv auf den EU-Beitritt vor. Gabriella Toth, Juristin aus Rumänien, stellt ihr Land vor und zeigt die Stärken und die Schwächen bei der Implementierung des Europarechts auf. Die Probleme Rumäniens sind ähnlich denen in Bulgarien: Vor allem wird seitens der EU-Kommission die Be-achtung der Rechte der Minderheiten eingefordert. Die Eingliederung von Sinti und Roma macht nach wie vor nur geringe Fortschritte. Die Integration der ungarischen Minderheit hingegen konnte gut bewältigt werden, es gibt Schulen für diese Bevölkerungsgruppe, auch deren eigene Kultur konnte ausreichend gesichert werden. Ein weiteres Problem ist die Bekämpfung der Korruption im Land. Weiterhin sind vor allem die Vorschriften des Wettbewerbsrechts noch nicht implementiert und ein funktionierender Wettbewerb ist derzeit nicht gewährleistet. Die Bevölkerung sei, so die Referentin, nicht ausreichend über die Vorteile eines Beitritts informiert, durch die zu erwartende Reisefreiheit verspricht man sich allerdings durchaus bessere Arbeitsplätze im westlichen Europa. Ähnlich wie bei Bulgarien wurde auch mit Rumänien eine Schutzklausel vereinbart, sollten die Reformen bis Frühjahr 2005 nicht ausreichend weit gediehen sein.

 

In der anschließenden Diskussion wurde der Beitritt aller zehn mittel- und osteuropäischen Staaten im Mai 2004 durchaus kritisch hinterfragt. Fraglich war bei der Bewertung der Kriterien für Rumänien und Bulgarien, ob denn wirklich alle 10 Staaten des vergangenen Jahres alle Kriterien objektiv erfüllt haben. Dabei wurden seitens der Kommission oftmals Zugeständnisse gemacht und Übergangsvorschriften sehr weit ausgelegt. Angesichts der derzeitigen europakritischen Haltung vor allem nach den Referenden über die Verfassung in Frankreich und in den Niederlanden hat gerade die Bevölkerung in den zwei Kandidatenländern das Gefühl, dass die Kommission bei Ihnen besonders genau prüft. Eine weitere Frage zielte auf das Verhältnis zwischen Bulgarien und Rumänien ab, ob in Bulgarien das Gefühl aufkommt, ob man auf das ärmere und wesentlich bevölkerungsstärkere Rumänien „warten“ müsse. Beide Referentinnen ver-neinten jedoch ein solches Problem, vielmehr ist ein Zusammenhängigkeitsgefühl zwischen beiden Staaten aufgekommen, da man in derselben Situation eines Beitrittskandidaten sei.

Bei beiden Ländern war man sich jedoch einig, dass – auch wenn die EU von der Sicherheitsklausel Gebrauch machen sollte – der Beitritt spätestens 2008 vollzogen sein wird. Die Regierungen beider Länder arbeiten mit Hochdruck auf den Beitritt hin, ein Großteil des Acquis communautaire wird bis zum Beitritt umgesetzt sein, für fehlende Bereiche wird es Übergangsfristen geben.

Wesentlich größere Unstimmigkeiten gab es bei der Diskussion über einen möglichen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union. Zunächst stellte Arslan Kiran die Hintergründe zur Türkei vor. Für einen möglichen Beitritt sprechen aus Sicht der EU die geostrategische Lage der Türkei und ihr Beitrag zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Für die Türkei sind die Manifestation europäischer und demokratischer Werte ein wesentlicher Grund, der Gemeinschaft beizutreten. Dies spornt die Regierung und auch die Bevölkerung der Türkei an, die Demokratisierung des Landes schnell voranzubringen. Dies bezieht sich vor allem auf die Bereiche Justiz und Inneres und Menschen- und Grundrechte sowie der Umgang mit Minderheiten. Dies ist auch eines der Hauptargumente, das gegen einen Beitritt der Türkei angeführt wird. Darüber hinaus werden vielfach Begründungen gegen einen Beitritt der Türkei vorgebracht, die sich auf die Geschichte der Türkei und die geographische Lage beziehen.

 

Der Referent macht klar, dass die Integrationsphase der Türkei lange dauern wird, Anstrengungen seien von beiden Seiten notwendig. Im Anschluss an den Vortrag wurde der Beitritt der Türkei zur EU kontrovers diskutiert. Zum einen wurde angeführt, dass allein eine Beitrittsper-spektive nicht Grund für Reformen sein kann, sondern dass diese aus dem Land selbst kommen müssen. Ebenfalls wurde kritisiert, dass seit über 40 Jahren es bereits einen Assoziierungsver-trag gebe, die türkische Regierung sich aber erst seit wenigen Jahren um die Annäherung an den Acquis bemühe. Auch das ungelöste Zypernproblem wurde angesprochen. Hierzu hielt Herr Tarfik Edhem Dirvana einen ergänzenden Kurzvortrag, der auf seiner Masterarbeit im Rahmen des Studienganges „Master of European Studies“ an der Universität Tübingen basierte. Trotzdem, so vor allem die türkischen Seminarteilnehmer, sei es für die Türkei wichtig, den Demokratisierungsprozess voranzubringen. Dabei sei der Weg das Ziel und man müsse in jedem Fall die Option der Mitgliedschaft offen halten.

 

Im folgenden Vortrag von Prof. Dr. Michael Bosch zum Thema „Wo liegt die Zukunft der EU“ wurde vor allem die derzeitige Problematik zur Finalität Europas dargestellt. Entstanden aus einer Friedensgemeinschaft entwickelte sich die EWG zu einer Wirtschafts- und Wohlstandsgemeinschaft. Allerdings sei zu bedenken, dass mit jeder Erweiterung – mit Ausnahme der von 1995 – die Gemeinschaft im Hinblick auf das BIP und das Pro-Kopf-Einkommen ärmer wurde. Dies schüre dann auch Ängste bei der Bevölkerung um Arbeitsplätze und bestehenden Wohlstand. Die Uridee der Gemeinschaft, Frieden in Europa zu sichern, war spätestens mit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr der Hauptzweck und eine Interessenverlagerung hin zur weiteren wirtschaftlichen Integration fand statt. Im Jahr 1993 legte man bereits die Kriterien fest, zu denen die Staaten Mittel- und Osteuropas beitreten können. Allerdings seien die Beitrittsverhandlungen aus Sicht der Beitrittskandidaten nur in geringem Umfang gleichberechtigte Verhandlungen.

 

Im Rückblick der Erweiterung um zehn neue Staaten im Mai 2004 scheint sich diese Angst vor der Erweiterung in den Referenden in Frankreich und den Niederlanden niederzuschlagen. Nach dieser Niederlage für Europa hat der Europäische Rat sich zunächst eine Denkpause eingeräumt. Einige Vorschläge gehen dahin, Teil III aus dem Europäischen Verfassungsvertrag herauszunehmen, allerdings ist es gerade der, der die Wirtschaftsmacht und die Wettbewerbsfähigkeit Europas bestimmt, um in der Triade zwischen USA und Asien standzuhalten.

 

Somit wird es derzeit wirklich offen bleiben, so Bosch, wie eine Finalität der EU aussehen könnte. Zu hoffen bleibe nur, dass das Projekt Europa weiter geht und neue Visionen geschaffen werden können.

 

Im Rückblick ein sehr erfolgreiches Seminar, dass vielen Teilnehmern neue Aspekte der Erweiterung der Europäischen Union aufgezeigt hat, Chancen und Risiken gleichermaßen abgewogen hat und damit auch zur Verständigung innerhalb Europas beigetragen hat.