11. Europäischer Abend: "Wohin steuert das soziale Europa?"

Die Frage nach dem sozialen Europa mit Blick auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) stand im Mittelpunkt des 11. Europäischen Abends am 9. Dezember im dbb-forum in Berlin. Rund 180 Gäste nahmen an der von der Europa-Union, dem dbb und der Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland organisierten Veranstaltung teil, die, ausgehend von den Urteilen des Europäischen Gerichtshof „Viking“, „Laval“ und„Rüffert“ Probleme, Möglichkeiten und Chancen einer europäischen Sozialrechtssprechung thematisierte.

Die Vorsitzende der Europa-Union Berlin und ehemalige Europaabgeordnete Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann wies in ihrer Begrüßungsansprache auf die zweifelhafte Berühmtheit hin, die der EuGH mit seinen Urteilen erlangte. Sie erinnerte an die große Kritik, die gegenüber dem Gerichtshof nach den Urteilen geäußert wurde und stellte die Frage, wie ein sozial(er)es Europa in Zukunft erreicht werden könne.


Dr. Max Stadler, Parlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz, stellte anschließend in seinem Kommentar fest, dass insbesondere der Lissabon-Vertrag mit seiner Grundrechte-Charta zu einer Stärkung der sozialen Rechte der Unionsbürgerinnen und –bürger geführt habe. „Sozialpolitik gehört nicht in erster Linie zu den EU-Kompetenzen“, sondern sei Sache der Mitgliedstaaten. Daher habe man es in Europa im Wesentlichen mit 27 verschiedenen Sozialsystemen zu tun, woraus sich Ungleichheiten ergäben. Insgesamt sei der EuGH aber sehr viel arbeitnehmerfreundlicher und sozialer als allgemein angenommen.

 

Die Botschafterin Österreichs in Luxemburg und ehemalige Generalanwältin am EuGH, Dr. Christine Stix-Hackl, teilte in ihrem Statement die Einschätzung Stadlers, dass der EuGH wiederholt das soziale Europa gestärkt habe. Besonders sei der Ausbau des grenzüberschreitenden Nicht-Diskriminierungsgrundsatzes hervor zu heben. „Die Kompetenz der EU im Arbeitsrecht ist allerdings sehr gering.“ Streitpunkte, aber auch Gestaltungsräume  ergeben sich laut Stix-Hackl vor allem beim Verhältnis zwischen Binnenmarkt- und sozialen Rechten sowie zwischen nationalstaatlichen und europäischen Rechten. „Der EuGH interpretiert Begriffe, damit die Mitgliedstaaten nicht jeweils selbst diese Begriffe auslegen können.“ Unter Umstände schieße der EuGH aber damit auch über das Ziel hinaus und überdehne die sozialen Rechte.

 

Die Impulse der Ansprachen wurden in der anschließenden Podiumsrunde aufgegriffen. „Hat der Lissabon-Vertrag einen Fortschritt in Richtung mehr sozialer Rechte in Europa gebracht?“, fragte Moderator Andreas Ulrich (rbb) zu Beginn. Prof. Dr. Christian Calliess von der Freien Universität Berlin bescheinigte dem Lissabon-Vertrag eine „Stärkung der sozialen Komponente des Binnenmarktes.“ Stefan Sträßer von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände sieht in den Urteilen des EuGH eine Festigung der Grundfreiheiten, was „gut für die Bürger, Verbraucher und auch die Unternehmer ist.“ Die Frage nach einer „Sozialklausel“ in einem EU-Vertrag beantwortet Prof. Callies als „theoretisch vorstellbar, politisch aber schwer durchsetzbar und nicht sinnvoll.“ Man sollte nicht zu viel von der EU erwarten, so Callies. „Sind wir wirklich bereit für eine soziale Union?“, fragte er – dies schließe auch grenzüberschreitende Finanztransfers ein. Für das soziale Europa 2020 wünschte sich Dr. Manfred Dauderstädt von der Friedrich-Ebert-Stiftung stärkere europäische Kompetenzen bei der Unternehmensbesteuerung während Sträßer den Ausbau des Binnenmarktes ohne weitere Regulierungen verlangte. Callies äußerte die Furcht vor einem Zerbrechen des europäischen Konsens, „weil zu viel gefordert wird.“

 

Trotz unterschiedlicher Ansichten im Detail waren sich die drei Diskutanten darüber einig, dass der Vertrag von Lissabon die sozialen Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger gestärkt habe. Da die Sozialpolitik allerdings im Wesentlichen Sache der 27 Mitgliedsstaaten geblieben ist, ergebe sich hieraus ein Spannungsverhältnis zwischen den Grundfreiheiten des Binnenmarktes und den sozialen Grundrechten, in dem der EuGH seine Entscheidungen fällen muss.

 

„Die Kommission erwartet Respekt vor den Entscheidungen des EuGH“, sagte Detlev Clemens, Stellvertretender Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland, in seinem Schlusswort. Für 2020 sieht Clemens eine verstärkte Hinwendung zum Sozialen auf der Agenda, erinnerte aber auch daran, die ökologische Dimension nicht zu vernachlässigen.