70 Jahre Europäische Akademie Hessen

„Wir leben in einer Zeit von Frieden, Freiheit und in weiten Teilen wirtschaftlichem Wohlstand in Europa. Gleichzeitig steht die Europäische Union unter so existenziellem Druck wie nie zuvor. Über beides wollen wir heute anlässlich besonderer Jubiläen in Schlüchtern sprechen: Zum Gründungstag der Europäischen Akademie in Hessen vor genau 70 Jahren und dem in Münster unterzeichneten Friedensvertrag zum Ende des 30-jährigen Krieges vor 370 Jahren.“ Mit gewichtigen Worten eröffnete Prof. Dr. Sven Simon als Vorsitzender der Europäischen Akademie Hessen e.V. den „Tag der Europäischen Akademie“ in Schlüchtern. Gemeinsam mit Marlies von der Malsburg stellte er an der Kinzigschule vor über 100 Schülerinnen und Schülern die Strukturen, Problemstellungen und Zukunftsfragen der Europäischen Union vor. So habe die EU mit der Euro-, Staatsschulden- und Wirtschaftskrise sowie den fortbestehenden Divergenzen in der Migrationspolitik die vielleicht größten Herausforderungen seit ihrer Gründung zu schultern. Manche forderten bereits eine Stärkung der Nationalstaaten, andere wiederum sehen eine Lösung der Krise nicht in weniger, sondern in mehr Europa.

Und die Impulse unter dem Motto „Create your Future“ zeigten Wirkung: Zahlreiche junge Zuhörer meldeten sich mit vielen grundsätzlichen und auch kritischen Fragen zu Wort, die eine lebhafte und sachliche Diskussion nach sich zogen. Spätestens hier wurde deutlich: Auch wenn Unterscheidungen zwischen Europäischer Union, Eurozone und Europarat nur bedingt zur Lebensrealität von Jugendlichen gehören und auch die Frage nach den örtlichen Europaabgeordneten eher betretenes Schweigen erzeugte – Meinungen und Überzeugungen zur Zukunft ihres Europas sind auch bei jungen Leuten durchaus vorhanden.

Fortgesetzt wurde der Festtag nach einem Ortswechsel: Zur Feierstunde versammelte sich die Gesellschaft am Gründungsort der Europäischen Akademie Hessen im Lauter´schen Schlößchen in Schlüchtern. Bei einem honorigen Empfang durften die Veranstalter zahlreiche Ehrengäste begrüßen, darunter Bürgermeister Matthias Möller und den Festredner Dr. Thorsten Lieb. In der Eröffnung dieses zweiten Festkapitels hob Vorsitzender Prof. Dr. Simon das große Engagement von Thomas Otto Schneider hervor. Ohne dessen Verdienste für die Europäische Akademie und die Europa-Union hätte es diesen Tag der Europäischen Akademie in Schlüchtern so nicht geben können.

„Wir brauchen Vernetzung auf der kommunalen Ebene. Denn alle großen Ideen gedeihen erst im Kleinen“, hob anschließend Marlies von der Malsburg hervor. Bei den Workshops hätten Schüler einen Austausch der Regionen angeregt. Die EU müsse sich erneuern, dies könne aber nicht verordnet werden, sei der Tenor der Aussprache gewesen. Dass die Schüler allerdings keinen einzigen Europaabgeordneten mit Namen kennen, stimme nachdenklich.

In seiner Festansprache ging Dr. Thorsten Lieb, Wirtschaftsjurist, Historiker und Europabeauftragter der FPD Hessen, auf den Begriff Akademie ein, der auf die von Platon gegründete Philosophenschule in Athen zurückgehe. „Seit dem 7. Jahrhundert vor Christus wird ein intensives Nachdenken über Polis und ihre Ordnung greifbar. Nicht zufällig liegen die sichtbaren Anfänge politischen Denkens und die Anfänge von Philosophie in der gleichen Zeit“, hob der Rechtshistoriker hervor. Die Griechen hätten keine Monarchie gewollt. Daher benötigte es viel Verstand und intellektuelle Verständigung über das, was war und was sein sollte. Dies habe zum Aufstieg der Mittleren und der Gründung von Akademien geführt. „Christian Meier spricht hier von der Kultur um der Freiheit Willen“, betonte der Festredner. Der entfesselte Bürgersinn habe das Polisleben und die Politik befeuert. „Die Lebensleistungen dieser Menschen für alle nachfolgenden Generationen kann man nicht hoch genug einschätzen. Wir stehen auf der Schulter von Riesen.“

Zeitsprung: Die Europäische Akademie Hessen sei genau 300 Jahre nach Beendigung des 30-jährigen Krieges und damit nach Abschluss des Westfälischen Friedens gegründet worden. „Gewalt und Krieg wurden als Mittel der Politik diskreditiert, offene Fragen politisch gelöst.“

Die heutige Werteordnung sei Brandmal in der deutschen Geschichte, gegründet auf dem Boden der Menschenwürde, geprägt von einem toleranten Miteinander in Freiheit, in Eigenverantwortung und einem verlässlichen Rechtsstaat auf einem langen Wege nach Westen. „Was Europa braucht, sind Menschen, die in Kenntnis der Geschichte mit Verve und Leidenschaft für die Menschen, ihre Freiheit und ihre Eigenverantwortung streiten, die den Menschen etwas zutrauen, um diesen Herausforderungen für unsere Gesellschaft zu begegnen.“

Die Europäische Union stehe am Scheideweg. Sie benötige einen Neustart und nicht nur eine institutionelle Generalüberholung. Es bedürfe einer Neuerfindung des westlichen Gesellschaftsmodells, denn die EU sei eine historisch einzigartige Ausprägung der politischen Kultur des Westens oder wie Hans-Dietrich Genscher sagte: „Unsere Zukunft ist Europa – eine andere haben wir nicht.“ (Dietmar Kelkel)

Fortgesetzt wurde der Festtag mit Workshops zu europäischer Politik und Geschichte und den Ursprüngen der Europäischen Akademie Schlüchtern in der Aula der Kinzigschule am Nachmittag, bevor ein abschließender Festakt in der Klosteraula des Ulrich-von-Hutten-Gymnasiums am Abend erfolgte.

Außerdem wurde die Veranstaltung mit Stehempfang von der BigBand des Ulrich-von-Hutten Gymnasiums unter der Leitung des Kulturpreisträgers Franz-Josef Schwade mitgestaltet, just jenem Programm, mit dem das Orchester nach Straßbourg zum Europäischen Parlament 2018 eingeladen war. Zentrale Aussage des Abends war jedoch die Feststellung, dass Bildung nicht nur abstrakt Raum brauche, sondern die Akademie in Schlüchtern nach Abschluss der Gespräche mit allen Beteiligten auch 2019 neu gebaut werde, so das Schlusswort von Thomas-Otto Schneider.