Großer Ansturm beim Bürgerdialog „Europas Grenzen“ in Freiburg

Der Schwarzwald-Saal im Regierungspräsidium Freiburg platzte am Abend des 10. November aus allen Nähten. Mehr als 120 Freiburgerinnen und Freiburger waren der Einladung von Europa-Union, JEF und dem Regierungspräsidium zum Bürgerdialog über Europas Grenzen gefolgt. Durch die Lage Freiburgs in der Grenzregion Oberrhein ist das Thema Europa im Alltag von Bürgern, Wirtschaft und Behörden omnipräsent. Angesichts der Ausbreitung von Populismus und Fremdenfeindlichkeit in Europa beschäftigten das Publikum besonders Strategien gegen die wachsende Europamüdigkeit, der Umgang mit Geflüchteten in der EU und die Verantwortung Europas in einer globalisierten Welt.

Einstiegspanel mit Jörg Bentmann, Bärbel Schäfer, Moderator Michael Wehner, Joachim Menze und Gisela Erler. Foto: Natalie Rapp

Eröffnet wurde der Bürgerdialog von der Freiburger Regierungspräsidentin Bärbel Schäfer und dem stellvertretenden Landesvorsitzenden der Europa-Union Baden-Württemberg Florian Ziegenbalg. „Die EU steht vor der größten Bewährungsprobe seit ihrer Gründung. Alle Mitglieder müssen nun Charakter zeigen“, unterstrich die Regierungspräsidentin. Anstelle nationaler Egoismen sei nun Geschlossenheit gefragt. Florian Ziegenbalg erinnerte an die Gründungsgeneration der Europa-Union, die sich vor 70 Jahren nach der Erfahrung des Krieges über Pateigrenzen hinweg für den Abbau von Grenzen und die Europäische Einigung einsetzte. „Die Grundsätze der Europa-Union lauten Europa erleben, Europa gestalten, Europa verstehen“, so Ziegenbalg. Mit den Bürgerdialogen und anderen Veranstaltungen wirke die Europa-Union als Plattform für Diskussionen über die grundlegenden Fragen der Handlungsfähigkeit, Solidarität und Zukunftsfähigkeit der EU.

„Die EU hat Mechanismen, um auf Krisen zu reagieren“, betonte Jörg Bentmann, Abteilungsleiter im Bundesinnenministerium. Es sei wichtig, deutlich zu machen, dass keine fremde Macht oder Bürokraten das Zepter in der Hand hielten, sondern in Brüssel die nationalen Regierungen und eigenen Europaabgeordneten die Politik gestalteten. Auch die Bundesländer seien vertreten und das Bundesverfassungsgericht habe deren Position nochmals gestärkt.

Gisela Erler, Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung im Staatsministerium Baden-Württemberg, forderte mehr Flexibilität bei europäischen Regelungen, um die Menschen nicht abzuschrecken. Als Beispiel nannte sie Produkte, die von Kleinerzeugern für den lokalen Markt hergestellt würden und aufwändig deklariert werden müssten. Ihr fehlt es auch an Identifikationsfiguren in Europa. Man brauche etwas „für das Herz“.

Der Leiter der Europäischen Kommission in München, Joachim Menze, zeigte anhand vieler Beispiele, wie sich die europäische Gesetzgebung im Laufe der Jahre durch konkrete Notwendigkeiten weiterentwickelte. „Europa besteht aus Gesetzen, die angepasst werden“, resümierte Menze. Mit Blick auf das Schengensystem sagte Menze: „Es ist eine Sensation, was Europa da geschaffen hat.“

Josef Follmann, ehemaliger Referatsleiter beim Caritasverband für die Erzdiözese Freiburg, warb angesichts aktueller Krisen für einen proaktiven Ansatz. Es gelte, den Blick nach vorne zu richten.  „Wir müssen wieder gestalten“, so Follmann.

Das Leben in der Grenzregion Oberrhein und der Blick zu den direkten Nachbarn zog sich wie ein roter Faden durch den Abend. Publikum und Referenten brachten viele Beispiele für ein gelungenes grenzüberschreitendes Miteinander ein, sei es die Verbesserung von Verkehrsverbindungen zwischen Deutschland und Frankreich, die Beratung von Zugezogenen und Pendlern bei Fragen zum Renten-, Steuer- und Krankenversicherungssystem oder Projekte, die kulturellen Austausch förderten. Bei Fragen der Infrastruktur lohnt sich bisweilen ein Blick in die Vergangenheit, wie Regionalhistoriker Robert Neisen veranschaulichte. Vor dem ersten Weltkrieg habe es in der Oberrhein-Region 22 Brücken gegeben, danach nur noch sechs. Beim Gedenken würde heute ein gemeinsamer Ansatz gewählt, wie das Museum am Hartmannsweilerkopf im Elsass zeige, das von Deutschland und Frankreich gemeinsam konzipiert wurde. Ein Teilnehmer aus Lothringen berichtete über das Paradox, dass einerseits Menschen dort alltäglich zum Einkaufen nach Deutschland und zum Tanken nach Luxemburg führen, jedoch den europakritischen Front National wählten. Professor Ernst-Jürgen Schröder von der Universität Freiburg gab zu bedenken, dass Lothringen durch den Strukturwandel über die letzten 50 Jahre einen sozialen Abstieg erlebt habe und dort eine hohe Arbeitslosigkeit zu verzeichnen sei.

„Das Thema Arbeitslosigkeit treibt den Populisten Wählerstimmen zu“, bestätigte auch Stephan Wilcken von Südwestmetall mit Blick auf das benachbarte Elsass. Die Unternehmen in seiner Branche suchten händeringend Azubis und werben daher in Kooperation mit der Agentur für Arbeit für die grenzüberschreitende Ausbildung. „Wir haben großes Interesse an einem gemeinsamen europäischen Wirtschafts- und Sozialraum“, unterstrich Wilcken. Einblicke in die deutsch-französische Ausbildungsförderung gab auch Katrin Distler vom Deutscher Gewerkschaftsbund Baden-Württemberg, die als EURES-Beraterin Ausbildungsplätze in der Grenzregion vermittelt.

Das Publikum brachte viele Ideen ein, wie ein europäisches Bewusstsein gefördert werden könne. Eine Teilnehmerin forderte einen europaweiten Fernsehkanal, um besser über europäische Politik und Geschehnisse aus anderen Mitgliedstaaten informiert zu sein. Ein anderer machte ebenfalls Europaunkenntnis als Grund für mangelnde Akzeptanz gegenüber der EU aus. Gerade der Demokratiezuwachs würde von vielen unterschätzt. Unterstützung fand auch der Vorschlag eines Interrail-Passes für junge Erwachsene. Vor allem müssten die Menschen aber verstehen, dass ihr Alltag ohne Europa nicht möglich wäre. „Dort, wo Europa drin ist, muss auch Europa draufstehen“, betonte Bärbel Schäfer und wies in diesem Zusammenhang auch auf die Verantwortung der Medien hin.

Auch beim Thema Zuwanderung machte das Publikum viele Vorschläge. Um Fluchtursachen zu beseitigen, müsse der globale Wettbewerb fair gestaltet werden. Dies betreffe vor allem die Wirtschaftsbeziehungen zu Ländern des globalen Südens. Dort würden durch europäische Exporte regionale Märkte zerstört, so ein Teilnehmer. Eine Teilnehmerin sprach sich dafür aus, Menschen, die bereits integriert wurden, nicht wieder abzuschieben, da sie am Arbeitsmarkt gebraucht würden. „Dann hat die Gesellschaft einen Nutzen und die Mühe war nicht umsonst.“ Andere Teilnehmer forderten mehr Wege legaler Zuwanderung, darunter auch humanitäre Visa für Menschen ohne Aussicht auf Asyl.

Annika Lorenz, stellvertretende Vorsitzende der Europa-Union Freiburg und Vorsitzende der JEF Freiburg, dankte dem Publikum für die rege Beteiligung. Ziel von Europa-Union und JEF sei es, einen generationenübergreifenden Dialog der europäischen Bürger zu fördern. „Unsere Stimme wird so lange berücksichtigt werden müssen, solange wir sie erheben“, unterstrich Lorenz.