Im Sommer 2009 hat Island der Europäischen Union ein Beitrittsgesuch vorgelegt. Zuvor wurde der Inselstaat im Nordatlantik schwer von der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise getroffen. Nach anhaltenden Protesten der Bevölkerung trat die Regierung in Reykjavík zurück. Aus den Neuwahlen im Frühjahr 2009 ging Jóhanna Sigurðardóttir als Siegerin hervor und setzte mit einer Koalition aus Sozialdemokraten und Linken Grünen Kurs in Richtung EU.
Seit Juni 2010 zählt Island zu den offiziellen Beitrittskandidaten, die Verhandlungen über eine EU-Mitgliedschaft haben begonnen. Island erfüllt alle politischen und rechtsstaatlichen Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft; der Fortschrittsbericht 2010 ist voll des Lobes für die funktionierende Demokratie und den hohen Standard der Rechtsstaatlichkeit. Trotzdem gilt es, noch einige Stolpersteine auf dem Weg in die EU aus dem Weg zu räumen. So haben die Auseinandersetzungen mit Großbritannien und den Niederlanden um Entschädigungszahlungen wegen des Konkurses der Icesave-Bank die Gespräche zwischen Reykjavík und Brüssel belastet. Eine Lösung ist noch immer nicht in Sicht, nachdem Islands Präsident zum zweiten Mal binnen eines Jahres ein vom Parlament mit den Gläubigerstaaten ausgehandeltes Abkommen blockiert hat. Auch der Streit um die Makrelenfangquoten hat zu Reibungen geführt. Island hat zudem eine Gesetzgebung, die den freien Kapitalverkehr beschränkt und ausländische Investitionen im Fischereisektor verbietet. Die Staatsverschuldung ist Ende 2009 auf 88 Prozent des BIP gestiegen. In der EU ist der Walfang verboten – Island will aber an seiner Tradition festhalten. Und schließlich: Bevor Island Mitglied der EU werden kann, müssen die 320.000 Isländer erst in einem Referendum dem Beitritt zustimmen. Scheitert der Beitritt an den Bürgern? Welche Auswirkungen hätte die EU-Mitgliedschaft für Island? Und welchen Nutzen zieht die EU aus der Aufnahme des Landes?
Darüber diskutierten Botschafter Gunnar Snorri Gunnarsson, die Bundestagsabgeordneten Hans-Michael Goldmann und Michael Roth sowie Prof. Bernd Henningsen vom Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität Berlin mit einem interessierten Publikum von mehr als einhundert Gästen. EUD-Vizepräsident Ernst Johansson moderierte den Abend.
Es gibt keine unüberwindbaren Hindernisse für Island auf dem Weg in die EU. Darin sahen sich die Redner weitgehend einig. Botschafter Gunnarsson zeigte in seinem Eingangsstatement auf, wie eng sein Land bereits heute mit der EU verbunden ist: Als Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums übernehme Island die europäische Gesetzgebung nahezu „eins zu eins“, ohne aber politische Entscheidungsgewalt in der EU zu haben. Kein Mitspracherecht und Einfluss im Rat zu besitzen, bedeute für Island derzeit einen größeren Verlust als der Verlust an Souverenität durch den EU-Beitritt, der von Gegnern immer wieder ins Feld geführt werde, so der Botschafter. Zur Frage, ob die Mehrheit der Bevölkerung den Beitritt will, zeigte sich Gunnarsson optimistisch: Im letzten Jahr sei die Zustimmungskurve kontinuierlich angestiegen – dabei würden die Informationskampagnen erst jetzt richtig losgehen.
Skeptischer sieht das Skandinavistik-Professor Henningsen. Er bewertet auch die Sonderrolle, die die Deutschen den Skandinaviern zumessen, kritisch. Für den stellv. Vorsitzenden der Deutsch-Nordischen Parlamentariergruppe im Bundestag, Hans-Michael Goldmann, passen der Wertekanon der Isländer und ihre Lebensart hervorragend zu Europa. Auch Michael Roth, europapolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, sieht Island als Teil der europäischen Wertegemeinschaft.
In der Debatte wurde deutlich: Bei allen noch bestehenden Problemen, die im Verlaufe der Beitrittsverhandlungen gelöst werden müssen, ist die „Mitgift“, die die Isländer in die EU einbringen würden, beachtlich: von wichtigen Impulsen, die von der nachhaltigen Fischereiwirtschaft Islands für die anstehende Reform der Fischereiwirtschaft in der EU ausgehen könnten, über den Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung Islands von 75 Prozent bis zur Möglichkeit, dass Island ein kleiner Nettobeitragszahler werden könnte.
„Aus deutscher Sicht ist der Beitritt Islands zur EU hochwillkommen“, so EUD-Präsident Peter Altmaier, in seinem Schlusswort. Deutschland habe ein vitales Interesse, dass das nordische Gewicht in der EU gestärkt werde. Er erwarte eine aktive Rolle Islands in der Gemeinschaft. In diesem Zusammenhang erinnerte er daran, dass die EU nicht nur eine Werte- und Kulturgemeinschaft, sondern darüber hinaus eine Solidaritätsgemeinschaft sei.