Kieler Appell als PDF-Dokument
Wir haben die Wahl: Am 25. Mai 2014 werden die Abgeordneten des Europäischen Parlaments zum achten Mal direkt gewählt: Rund 400 Millionen Europäerinnen und Europäer aus den 28 EU-Mitgliedstaaten sind aufgerufen, insgesamt 751 Europaabgeordnete zu wählen; 96 davon werden aus Deutschland kommen.
Bei der Europawahl steht nicht Europa zur Wahl. Es geht darum, welche politischen Kräfte im Europäischen Parlament die Mehrheit haben. Es geht darum, welche Persönlichkeiten Sie in dem Parlament vertreten. Und auch wer Präsident der Europäischen Kommission und Kommissar wird, hängt von der Zusammensetzung des Parlaments ab. Wer soll Europa in den nächsten fünf Jahren regieren? Wie soll Europa regiert werden? Das müssen die 500 Millionen EU-Bürger gemeinsam entscheiden.
Diese Europawahl findet in einer schwierigen Phase der europäischen Integration statt: Eine mehrjährige Abfolge verschiedener Krisen und ihre Auswirkungen haben viele Bürgerinnen und Bürger verunsichert und an Europa, am Euro und an "Brüssel" im Allgemeinen zweifeln lassen. Versuchen, unter dem Deckmantel berechtigter Kritik an einzelnen EU-Entscheidungen, die Ablehnung der europäischen Integration als Ganzes zu betreiben, treten wir entschieden entgegen. Der Vertrauensverlust ist in der öffentlichen Debatte spürbar: Polemische Stimmungsmache gegen den Euro und die europäischen Institutionen sind in Deutschland ebenso salonfähig geworden wie Forderungen nach einer Renationalisierung europäischer Zuständigkeiten. Dies versuchen Populisten in mehreren Mitgliedsstaaten für eine Renationalisierung auszunutzen.
Auch die europäischen Staats- und Regierungschefs haben zu dieser Schwächung beigetragen, in dem sie die einzige direkt demokratisch gewählte Institution der Europäischen Union, das Europäische Parlament, von wichtigen Entscheidungen zur Stabilisierung der Währungsunion ausgeschlossen und ihre Entscheidungen nur untereinander - im Wege des Völkerrechts - beschlossen haben.
Jedoch wird das Licht am europäischen Horizont langsam wieder heller. So unpopulär die Rettungsaktionen sowohl hier wie auch in den unterstützten Staaten waren, sie zeigen positive Wirkungen. Noch sind längst nicht alle Probleme gelöst. Doch nimmt die Konsolidierung ihren Lauf und an den Finanzmärkten ist Beruhigung eingetreten. Entgegen vieler düsterer Prognosen hat sich die Eurozone nicht aufgelöst. Ein Austritt aus dem Euro steht nirgendwo mehr ernsthaft auf der Agenda. Deshalb kommt es bei der Europawahl darauf an, dass eine vernünftige Stabilisierungspolitik fortgesetzt wird, die es um eine soziale Dimension zu ergänzen gilt. Auch kommt es im Europawahlkampf darauf an, die erreichten Fortschritte bei der Überwindung der Finanzkrise und bei der Umsetzung der „Europa-2020-Strategie“ zu verdeutlichen. Dies ist bisher kaum der Fall. Wenige haben die europäische Integration verteidigt, auch viele Regierungen nicht.
Die Europa-Union Deutschland ist über diese Entwicklungen in der Europäischen Union und in Deutschland zutiefst beunruhigt und befürchtet, dass europaskeptische und europafeindliche Parteien im nächsten Europäischen Parlament verstärkt Einzug halten werden, nicht zuletzt auch deshalb, weil das Bundeverfassungsgericht für die Europawahlen die frühere Fünfprozentklausel aufgehoben hat.
In dieser Situation muss entschlossen entgegengesteuert werden. Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger Europas in die Europäischen Institutionen muss zurückgewonnen werden. Europäische Politik muss erlebbarer und emotionaler werden.
Der Kieler Kongress der Europa-Union Deutschland - gestützt auf das Hertensteiner und das Düsseldorfer Programm - appelliert an die wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger, an die Vertreter/-innen der europäischen Zivilgesellschaft, die bei der Europawahl antretenden Kandidaten und Kandidatinnen der verschiedenen Parteien und die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, sich für die folgenden Forderungen einzusetzen:
1. Der Wahlkampf zu den Europawahlen 2014 soll ausschließlich zu europäischen Themen geführt werden. Die Bürgerinnen und Bürgern müssen Vertrauen in das Gewicht ihrer Stimme bei den Wahlen gewinnen und davon überzeugt werden, dass sie mit ihrer Stimme die Entscheidungen auf europäischer Ebene und den Fortgang der europäischen Integration wirksam mitgestalten können. Damit werden die Voraussetzungen für eine hohe Wahlbeteiligung geschaffen.
2. Gemeinsam mit der demokratischen Zivilgesellschaft, den Parteien und den Parlamenten der verschiedenen politischen Ebenen soll die demokratische Legitimation Europas insgesamt gestärkt und eine europäische Bürgergesellschaft mit einer europaweiten Öffentlichkeit entwickelt werden. Die Parteien sollen, wie vorgesehen, europaweite Spitzenkandidaten der Parteienfamilien nominieren und den Wahlsieger für die Wahl des Kommissionspräsidenten vorschlagen. Nur so können die Bürgerinnen und Bürger auch erkennen, wer für welches Programm steht. Bei den Europawahlen 2019 sollen dann wirklich europäische Parteien mit transeuropäischen Wahllisten antreten.
3. Das neu gewählte Europäische Parlament muss dem Europäischen Rat frühzeitig und unmissverständlich deutlich machen, dass nur solche Kandidaten für die Präsidentschaft der Kommission in Betracht gezogen werden, die eine Mehrheit des Parlamentes hinter sich haben und alle anderen abzulehnen: In einer europäischen Demokratie entscheiden die Volksvertreter, nicht die nationalen Regierungen, wer die europäische Exekutive anführt.
4. Die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft. Sie muss die Rechte ihrer Bürgerinnen und Bürger, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit entschlossen verteidigen. Fehlentwicklungen innerhalb der Mitgliedstaaten muss entschieden entgegen gewirkt werden.
5. Der Weg zur vollen Parlamentarisierung der Europäischen Union, die im Vertrag von Lissabon angelegt ist, muss entschlossen fortgesetzt werden. Hierzu gehört es auch, dass die Europäische Kommission zu einer europäischen Regierung werden muss, die sich - gestützt auf eine Parlamentsmehrheit - auf wichtige europäische Handlungsfelder konzentriert und darauf achtet, dass Überregulierung durch den europäischen Gesetzgeber unterbleibt.
6. Alle auf europäischer Ebene zu treffenden Entscheidungen müssen in Zukunft auf der Grundlage der Gemeinschaftsmethode getroffen werden mit einer starken Rolle von Europäischem Parlament, Kommission und Rat. Auch die Entscheidungen des Europäischen Rates der Regierungschefs bedürfen der demokratischen Zustimmung durch Parlament und Rat und, wenn nationale Zuständigkeiten betroffen sind, auch der nationalen Parlamente. Die Umgehung der Mitwirkung des Europäischen Parlaments durch intergouvernementale Vereinbarungen der Regierungschefs hinter verschlossenen Türen hat das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Europäischen Institutionen beschädigt.
7. Der Euro ist und bleibt die gemeinsame Währung der EU und eine wichtige Errungenschaft der europäischen Einigung. Er hat sich bewährt, stiftet Identität und dient Europa. Der Geldumtausch entfällt, Einkäufe im Ausland sowie das Reisen werden erleichtert, die Inflationsraten sind niedrig. In Zeiten der Globalisierung sind nationale Währungen kleiner EU-Staaten zu schwach. Der Euro hingegen ist stark genug, um mit der Leitwährung Dollar und anderen wichtigen Währungen zu konkurrieren.
8. Das Auseinanderfallen von Euro- und (Noch)Nicht-Euro-Mitgliedern muss verhindert werden. Deshalb sollen der Wirtschafts- und Währungsunion möglichst alle EU-Mitglieder beitreten. Der Beitritt Lettlands zum Euro Raum am 1. Januar 2014 ist ein wichtiges Signal. Bei einer vertraglichen Vereinbarung von neuen Handlungsstrukturen ist darauf zu achten, dass diese in einer Weise in den Rahmen der bestehenden EU-Institutionen eingefügt werden, dass die Eurozone stabil und handlungsfähig, gleichzeitig aber integraler Bestandteil der Europäischen Union bleibt.
9. Die Rückverlagerung von Kompetenzen auf die Nationalstaaten wird abgelehnt. Zugleich muss die Debatte über die künftige Aufgabenverteilung zwischen der EU, den Mitgliedstaaten und ggf. den Regionen und Kommunen unter Beachtung der Prinzipien von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit ergebnisoffen und ernsthaft geführt werden. Viele Bürgerinnen und Bürger erwarten eine handlungsfähige EU, die sich vor allem um die globalen Fragen und grenzüberschreitenden europäischen Fragen kümmert. Nicht in jedem Fall ist eine kleinteilige Regelung auf europäischer Ebene notwendig. Aus unserer Sicht müssen die Handlungskompetenzen der europäischen Ebene beispielsweise vor allem auch in der Außen- und Sicherheitspolitik gestärkt werden. Angesichts der Herausforderungen der Globalisierung und einer multipolaren Welt mit neuen starken Konkurrenten und Machtzentren ist die europäische Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik grundlegend für Europas Zukunft.
10. Um künftige Krisen gemeinschaftlich besser abwehren zu können, muss die EU zu einer echten Politischen Union ausgebaut werden, die auch außenpolitisch handlungsfähig ist. Vor allem aber muss die Europäische Union energische Schritte zur Überwindung der Arbeitslosigkeit – vor allem der unerträglich hohen Jugendarbeitslosigkeit in den Defizitländern – in Angriff nehmen. Die Flüchtlingstragödien im Mittelmeer erfordern endlich eine solidarische und am Menschen orientierte, gemeinsame europäische Antwort sowohl in der Asyl-, Flüchtlings- und Zuwanderungspolitik als auch in der europäischen Entwicklungspolitik. Die Bürgerinnen und Bürger, sowohl in den Mitgliedstaaten der Eurozone als auch in den weiteren EU-Mitgliedstaaten müssen sich auf die Solidarität der gesamten Europäischen Union verlassen können.
11. Zur Stärkung der europäischen Demokratie soll in den EU-Verträgen vorgesehen werden, dass die europäischen Bürgerinnen und Bürger ihre umfassenden unionsbürgerlichen Wahlrechte – auch wenn sie nicht die Staatsbürgerschaft ihres Wohnsitzlandes haben – nicht nur bei Kommunalwahlen und den Europawahlen ausüben können, sondern auch bei Regionalwahlen und bei Wahlen zu den nationalen Parlamenten.
12. Nach den Europawahlen soll möglichst bald ein bürgeroffener Konvent mit einem umfassenden Mandat zur Weiterentwicklung der vertraglichen Grundlagen der EU einberufen werden, um die notwendigen Reformen in Angriff zu nehmen. Die vom Konvent vorgelegten Ergebnisse sollen den Unionbürgerinnen und Unionsbürger oder ihren parlamentarischen Vertreterinnen und Vertretern unverändert zur Ratifikation vorgelegt werden.
Die Europa Union Deutschland ist überparteilich und hat bislang nie Wahlempfehlungen abgegeben. Bei der Europawahl 2014 jedoch rät sie ausdrücklich von der Wahl von Parteien ab, die sich gegen die europäische Integration und den Euro stellen. Europagegner können im Europäischen Parlament nichts Positives bewegen.