Für den Hamilton-Moment ist es noch nicht zu spät – Persönlicher Einwurf von EUD-Generalsekretär Christian Moos

Die Europäische Union wird absehbar unter großen Druck geraten. Russlands Angriff beschleunigt und verstärkt Prozesse, die ihren Niedergang einleiten können. Die Europäerinnen und Europäer sind dieser Gefahr aber nicht ohnmächtig ausgeliefert. Europa kann seinen Fortbestand in Demokratie und Freiheit sichern, wenn es jetzt wichtige Weichenstellungen vornimmt.

 

Solange Europa unter dem nuklearen Schutzschirm der USA steht, muss es nicht befürchten, von einer anderen Macht existentiell bedroht zu werden. Da diese Schutzgarantie politische Voraussetzungen auch in der US-Innenpolitik hat, die Brüssel nicht beeinflussen kann, muss Europa über seine Fähigkeit nachdenken, ein eigenes Abschreckungspotential vorzuhalten, das bestehende Allianzen nicht schwächen dürfte, sondern sich in ihre Logik einschreiben müsste. Hier bleibt möglicherweise nicht mehr viel Zeit.

Ebenso dringlich ist es, eine Zunahme des – in Europa auch zwischenstaatlichen – Wohlstandsgefälles und immer höherer Schulden zu vermeiden. Denn beide führen insbesondere in ihrer Kombination zu wirtschaftlichem Niedergang und zu politischen Verwerfungen. Sie schwächen die Stabilität der Institutionen, stärken Populismus und politische Extreme und unterminieren damit nicht nur die innere Wehrhaftigkeit der freiheitlichen Demokratie, sondern auch die Fähigkeit zur äußeren Verteidigung.

Die Pandemie, die noch nicht zu Ende ist, hat Europa stärker verändert als die Weltfinanzkrise. Der Krieg im Osten, der Überfall auf die Ukraine, bedroht Europa insgesamt, hat angesichts der russischen Kriegsziele enormes Ausweitungspotential. Europa muss zugleich seine Verteidigungsausgaben erhöhen, sie vor allem auch durch mehr Zusammenarbeit viel effizienter gestalten, und die sozialen Folgen der Pandemie bekämpfen.

Europa muss zudem dringend in seine seit langem unterfinanzierten Bildungssysteme und in seine vielfach veraltete Infrastruktur investieren, wenn es wieder wettbewerbsfähiger werden und seinen – bis dato zu ungleich zwischen den Mitgliedstaaten verteilten – Wohlstand bewahren will. Auch das gehört untrennbar zur europäischen Resilienz gegen feindliche Angriffe von innen und von außen.

Deutschland ist nicht die alleinige, wohl aber eine bedeutende europäische Führungsmacht. Viel wird also von deutschem Regierungshandeln abhängen, von dem, was deutsche Eliten denken und für die europäische Ordnung einzusetzen bereit sind.

Hohe Verschuldung führt langfristig unweigerlich zu wirtschaftlichem Niedergang und damit zu sozialen und zu politischen Krisen. Die Geschichte zeigt hier keine Ausnahmen. Dennoch war die Austeritätspolitik, zumal in Verbindung mit ultraliberaler Marktgläubigkeit, wie sie über viele Jahre vorherrschte, ein strategischer Fehler.

Mittlerweile ist der Konsens groß, dass es erheblicher Investitionen bedarf, insbesondere um die klimaneutrale Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft zu ermöglichen und auch künftig soziale Chancengleichheit und Wohlstand, gegebenenfalls nach neuen Kriterien definiert, zu sichern.

Um dies und alle weiteren Ziele der europäischen Politik verwirklichen zu können, gibt es eine klare Perspektive. Diese besteht, das sollte wenig verwunderlich sein, in gemeinsamen europäischen Anleihen. In der deutschen Politik gelten diese aber als Tabu. Als der 750 Milliarden Aufbaufonds vereinbart war, sprach der damalige Finanzminister Olaf Scholz von einem „Hamilton Moment“.

Alexander Hamilton war erster Finanzminister und einer der Gründungsväter der Vereinigten Staaten von Amerika. Später – mit Blick auf deutsche Befindlichkeiten? – erklärte Scholz, mittlerweile Bundeskanzler, der Fonds sei kein Einstieg in die gemeinsame Staatsfinanzierung, müsse einmalig und klar konditioniert bleiben. Richtig ist, dass die öffentliche Meinung bisher klar gegen „Eurobonds“ steht. Führung bedeutet aber, nicht immer der öffentlichen Meinung zu folgen.

Um das Moral Hazard Problem zu lösen, das auch Scholz zu Recht befürchtet, könnten Euro-Anleihen unter der Voraussetzung klar festgelegter Haushaltsdaten zur Verfügung stehen. Günstige Refinanzierungsbedingungen wären so also klar an die Solidität der nationalen Haushaltspolitik gebunden. Diese Kriterien so zu justieren, dass Investitionen in Bildung und Infrastruktur möglich bleiben oder überhaupt erst werden, wäre allerdings wichtig.

Somit könnten klug angelegte gemeinsame Anleihen, die die nationalen ergänzen, sogar zu einer europaweiten Konsolidierung öffentlicher Schuldenstände und perspektivisch zu mehr Wettbewerbsfähigkeit beitragen. Der Fehlanreiz kann also ausgeschlossen werden. Die Währungsunion würde ihrer Vollendung einen bedeutenden Schritt näher kommen, was kein Selbstzweck ist, sondern mit Blick auf die Zukunft der europäischen Ordnung eine Notwendigkeit.

Die Europäische Zentralbank würde ein solches System entlasten, sie überhaupt erst in die Lage versetzen, der durch eine Vielzahl exogener Faktoren bedingten, großenteils aber auch hausgemachten Inflation wirksam entgegenzuwirken, vor allem indem sie dem frischen Geld wieder einen Preis geben könnte.

Europa steht vor seinem Hamilton-Moment. Das gilt nicht nur für die Finanzen, sondern auch für sein politisches Gefüge. Nichtstun bedeutete die Fortsetzung des allmählichen Niedergangs, dessen Zeichen kaum zu übersehen sind. Übernehmen Populisten in europäischen Kernstaaten die Macht, ist es zu spät. Beherztes Handeln, europäische Führung sind gefragt. Für den Hamilton-Moment ist es noch nicht zu spät.
 

Christian Moos ist Generalsekretär der Europa-Union Deutschland e.V. und Mitglied im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss.